Die Fährte
anschließend die Tatwaffe und die Kleider beseitigt. Und ein Washer, der das Geld wäscht.«
»Raskol?«
»Wenn Raskol die Schuld von dem eigentlichen Täter weglenken will, was läge dann näher, als uns auf die Suche nach einem Mann zu schicken, von dem niemand weiß, wo er ist oder ob er noch lebt? Einem, der vielleicht unter einem neuen Namen in einem fremden Land lebt und den wir als Verdächtigen niemals ausschließen können. Indem er uns ein solches Endlosprojekt aufhalst, kann er uns dazu bringen, unseren eigenen Schatten zu jagen statt seinen eigenen Mann.«
»Du glaubst also, dass er lügt?«
»Alle Zigeuner lügen.«
»Ach ja?«
»Zitat Raskol.«
»Dann hat er jedenfalls Sinn für Humor. Und warum sollte er dich nicht anlügen, wenn er alle anderen angelogen hat?«
Harry antwortete nicht.
»Endlich eine Lücke«, sagte Beate und trat aufs Gas.
»Warte!«, sagte Harry. »Fahr nach rechts. Richtung Finnmarkgata.«
»Wenn du willst«, sagte sie verwundert und bog vor dem Tøyenpark in die Straße ein. »Wohin fahren wir?«
»Wir statten Trond Grette einen Besuch zu Hause ab.«
Das Netz auf dem Tennisplatz war entfernt worden. Und in Grettes Haus brannte in keinem Fenster Licht.
»Er ist nicht zu Hause«, stellte Beate fest, nachdem sie zweimal geklingelt hatten.
Das Fenster des Nachbarn öffnete sich.
»Trond müsste eigentlich zu Hause sein«, krächzte das faltige Frauengesicht, das, nach Harrys Empfinden, noch brauner aussah als beim letzten Mal. »Er will nur nicht aufmachen. Klingeln Sie länger, dann kommt er.«
Beate hielt den Klingelknopf gedrückt und sie konnten das aufdringliche Schellen im Inneren des Hauses hören. Das Fenster des Nachbarn schloss sich wieder, und kurz darauf blickten sie in ein bleiches Gesicht mit zwei blauschwarzen Ringen, die einen gleichgültigen Blick umrahmten. Trond Grette trug einen gelben Morgenmantel. Es sah aus, als sei er nach einer Woche Schlaf gerade erst aufgestanden. Und als sei er noch immer nicht ausgeschlafen. Ohne ein Wort hob er die Hand und bedeutete ihnen, hereinzukommen. Es glitzerte, als das Sonnenlicht von dem Diamantring an seinem linken kleinen Finger reflektiert wurde.
»Lev war anders«, sagte Trond. »Mit fünfzehn hätte er beinahe einen Mann getötet.«
Er lächelte vor sich hin, als sei das eine schöne Erinnerung.
»Es war fast so, als hätten wir ein komplettes Gen-Set zwischen uns aufgeteilt. Was er nicht hatte, hatte ich – und umgekehrt. Wir sind hier in Disengrenda aufgewachsen, in diesem Haus. Lev war eine Legende in der Nachbarschaft, während ich immer nur der kleine Bruder von Lev war. Eine der ersten Sachen, an die ich mich erinnern kann, ist, dass Lev in der Schule in der Pause über die Dachrinne balanciert ist. Die war über der vierten Etage, und keiner der Lehrer wagte es, ihn herunterzuholen. Wir standen unten und feuerten ihn an, während er mit ausgestreckten Armen hoch dort oben herumtanzte. Ich sehe noch immer seine Gestalt vor dem blauen Himmel. Ich hatte keine Sekunde Angst, ich kam nicht einmal auf den Gedanken, dass mein großer Bruder herunterfallen könnte. Und ich glaube, so haben das damals alle empfunden. Lev war der Einzige, der die Gausten-Brüder oben aus den Blocks am Travervei verprügeln konnte, obwohl die zwei Jahre älter waren als er und schon in der Jugendstrafanstalt gewesen waren. Mit vierzehn stahl er Vaters Auto, fuhr nach Lillestrøm und kam mit einer Packung Twist zurück, die er am Bahnhofskiosk geklaut hatte. Vater merkte nichts. Die Packung Twist hat Lev mir geschenkt.«
Trond Grette sah aus, als versuche er zu lachen. Sie hatten sich an den Küchentisch gesetzt. Trond hatte Kakao gemacht. Das Kakaopulver hatte er aus einer Metalldose gelöffelt, die er vorher lange angestarrt hatte. »Kakao« hatte jemand mit einem Füller auf einen Zettel darauf geschrieben. Die Handschrift war zierlich und feminin.
»Das Schlimme ist, dass aus Lev wirklich etwas hätte werden können«, sagte Trond. »Das Problem war bloß, dass er die Dinge so schnell leid wurde. Alle sagten, dass er seit langem das größte Fußballtalent in Skeid war, doch als er zu einem Spiel der Jugendnationalmannschaft eingeladen wurde, ging er nicht einmal hin. Mit fünfzehn lieh er sich eine Gitarre und zwei Monate später trat er in der Schule mit eigenen Songs auf. Anschließend wurde er von einem Typ namens Waaktar angesprochen, ob er nicht Lust hätte, in Grorud mit in einer Band zu spielen, doch
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