Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
Licht, Gentlemen«, offenbarte Weintraub in betonter Schlichtheit. »Eine Kohlebogenlampe, gespeist von einem Nollet-Generator im Maschinenraum. Der dahingeschiedene Mr. Brunel gab diesem Schiff, was kein anderes besitzt – einen eigenen Mond.«
    »Bei allen Heiligen … elektrisches Licht«, keuchte Weaver halb ergriffen, halb entsetzt. Als wüsste er nicht, was er von einem so widernatürlichen Gerät zu halten hatte, sah er mit einer Mischung aus scheuer Faszination und tiefem Misstrauen empor zu der großen Glaskugel. Auch Beaulieu war beeindruckt von dieser Vorstellung, konnte sich aber der kritischen Frage nicht enthalten, ob eine solche Apparatur denn überhaupt funktionierte.
    »Captain Paton war so gütig, mir eine Demonstration zu geben«, zerstreute Weintraub diese Bedenken. »Das gesamte Schiff war in gleißendes Licht getaucht. Die Helligkeit ist so groß, dass sich an Deck des Nachts jedwede Arbeiten verrichten lassen, als wäre es Tag. Sicherlich ein Vorzug, der für Sie von Nutzen ist.«
    »Sogar außerordentlich, Mr. Weintraub«, bescheinigte ihm Charles Beaulieu , dessen Blick erneut hinaufwanderte zum gläsernen Globus. Ihm fiel schwer zu glauben, dass all diese technischen Wunderwerke nicht nur Fieberphantasien entsprangen, aus denen er im nächsten Moment unversehens erwachen musste.
     
    An Bord der kleinen Mietbarkasse fuhren Weaver und Beaulieu von der
Great Eastern
zurück zum Hafen. Der schwimmende Titan hatte zwar in die Bucht einlaufen können, doch für die Quais war er zu groß, so dass er auf Reede liegen musste. Die Unzahl der chaotisch durcheinanderfahrenden Ruderboote, in denen Neugierige die
Great Eastern
umschwärmten wie Wespen ein Glas Zuckerwasser, nötigte den Kapitän des Dampfbootes zu ständigen Ausweichmanövern und unentwegten Flüchen.
    »Ein prächtiges Schiff«, meinte Jeremiah Weaver hingerissen und seufzte gleich darauf bedrückt. »Was für eine Schande, dass wir es völlig ausweiden müssen, um möglichst viel Laderaum zu schaffen.«
    »Wenn erst alles hinter uns liegt, richten wir es prunkvoller als zuvor wieder her und machen es zum Stolz der Konföderation auf den Ozeanen. Es wird der Botschafter unserer Größe sein«, versicherte Beaulieu ihm.
    Er wollte weitersprechen, brach aber mitten im ersten Wort ab, als er ein Ruderboot mit einer Familie Schwarzer erblickte, Eltern und vier Kinder im Sonntagsstaat, die auf die
Great Eastern
zuhielten und das Riesenschiff bestaunten. Voller Hass, aber doch so leise, dass der verdächtig dunkelhäutige Kapitän seine Worte nicht vernehmen konnte, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen: »Glotzt sie nur mit aufgerissenen Mäulern an, Niggeraffen. Damit ihr wisst, was ihr später einmal verfluchen könnt.«
    »Wie meinen Sie?«, fragte Weaver nach, der nur zusammenhanglose Lautfetzen mitbekommen hatte.
    »Nichts«, wimmelte Beaulieu ab. »Was ich eigentlich sagen wollte – noch an diesem Nachmittag lasse ich Healey die Formalitäten erledigen. Mit der Eintragung ins Schiffsregister geht die
Great Eastern
endgültig in unsere Hände über.«
    »Da Sie gerade Healey erwähnen … Wie weit ziehen wir ihn über die eigentliche Bestimmung des Schiffes ins Vertrauen?«
    »Gar nicht«, beschied Beaulieu ihm knapp. In den zwei kurzen Worten klang die ganze Geringschätzung mit, die er für Alvin Healey empfand.
    Ein plötzlich einsetzender Wind fegte über die Bucht und trieb riffelige Wellenfelder vor sich her. Von Norden zogen dunkle Wolken auf.

Vor Fredericksburg, im Norden Virginias
    Umgeben von Finsternis, beim spärlichen Licht einer einzigen Petroleumlampe, kauerte General Ambrose Burnside in sich zusammengesunken auf einer Munitionskiste. Sein Gesicht war aschfahl. Er starrte regungslos in die Nacht, nach Westen, dorthin, wo irgendwo in der Dunkelheit jenseits des Rappahannock das Schlachtfeld lag.
    Der schneidende Wind trieb wirbelnde Schneeflocken durch die Luft und trug geisterhafte Fetzen vom Schreien und Stöhnen Tausender Verletzter mit sich. Sie lagen noch immer dort, wo während des Tages die Geschosse sie niedergestreckt hatten, mit klaffenden Wunden, zertrümmerten Gliedmaßen, heraustretenden Gedärmen. Niemand konnte ihnen helfen. Sie waren dazu verdammt, in dieser Nacht unter Schmerzen zu erfrieren.
    Burnside erschauderte. »Sie klagen mich an«, röchelte er mit flatternder Stimme. »Hören Sie denn nicht? Diese Laute … Die Toten klagen mich an!«
    Die umstehenden Offiziere seines Stabes blickten sich

Weitere Kostenlose Bücher