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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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unschätzbarem Wert in einem schadhaften Schiff auf hohe See hinauszuschicken, behagte ihm nicht. Entschieden erklärte er, dass die
Great Eastern
auf jeden Fall instand gesetzt werden müsse, ehe sie zum Einsatz gelangen konnte.
    Als hätte er diese Äußerung vorausgesehen, holte Weintraub ein Notizbuch hervor, blätterte eine bereits durch ein Lesebändchen markierte Seite auf und entgegnete: »Da bekanntlich kein Trockendock Amerikas dieses Schiff aufnehmen kann, entwickelten die Messieurs Edward und Henry Renwick, zwei reputable Ingenieure, im Auftrage der Great Ship Company ein Verfahren zur Reparatur im schwimmenden Zustande. Sie sahen vor, einen hundert Fuß langen Caisson am Rumpf zu befestigen, auszupumpen und in seinem Inneren, gewissermaßen in einem unter Wasser gelegenen Tunnel, Arbeiter den Riss ausbessern zu lassen.«
    So recht wusste Beaulieu nicht, was er von diesem abenteuerlich klingenden Verfahren halten sollte. Ungläubig fragte er, ob ein solches Vorgehen denn überhaupt möglich sei.
    »Oh, das ist es«, versicherte ihm Weintraub, fuhr dann aber mit einem Anflug von Bedauern fort: »Die eigentliche Hürde sind die passgenau gefertigten und gebogenen Eisenplatten von einem dreiviertel Zoll Stärke, welche für die Reparatur benötigt werden. Niemand in den Südstaaten kann derartige Platten fertigen, und kein Walzwerk im Norden wird sie liefern, wenn erst ruchbar wird, dass die
Great Eastern
faktisch im Besitz der Konföderation ist. Sie müssten alle Eisenplatten aus Europa beziehen, wodurch für die Arbeiten wenigstens ein halbes Jahr zu veranschlagen wäre.«
    »Ein halbes Jahr!«, stöhnte Jeremiah Weaver entgeistert.
    Dass eine solche Dauer untragbar war, erfasste Charles Beaulieu sofort. Die Zeit arbeitete, allen Siegen auf den Schlachtfeldern zum Trotz, unerbittlich gegen die Konföderation. Wer vermochte zu sagen, ob die Waffen, wenn sie im August oder September des folgenden Jahres endlich eintrafen, überhaupt noch von Nutzen sein würden? Widerstrebend und gegen die Bedenken Weavers fügte er sich in das Unausweichliche und erklärte sich einverstanden, die
Great Eastern
mit ungeflicktem Rumpf auf ihre Mission zu entsenden.
    Weintraub nahm die Entscheidung des Südstaatlers erfreut zur Kenntnis und sicherte ihm nochmals zu, dass der geringfügige Schaden dank der brillanten Konstruktion Isambard Kingdom Brunels keinerlei Gefahr darstellte. Er schlug einen kleinen Rundgang vor, auf dem Beaulieu und Weaver sich mit eigenen Augen von den außergewöhnlichen Qualitäten der
Great Eastern
überzeugen sollten. Sie nahmen dieses Angebot dankend an.
    Weintraub führte sie unter Deck und geleitete sie durch endlos scheinende Korridore, üppig mit Säulen und Spiegeln dekorierte Säle, hallengroße Laderäume und zu den an furchterregende stählerne Ungeheuer gemahnenden kolossalen Dampfmaschinen. Erfüllt von Staunen über die Dimensionen und die technische Vollkommenheit des riesigen Schiffes, die ihnen wie eine schwimmende Stadt vorkam, folgten sie den sachkundigen Erklärungen Weintraubs, der sich exzellent informiert zeigte. Nicht nur wies er sie auf die unfassbare Transportkapazität des Schiffes hin, er lenkte ihr Augenmerk auch auf die ans Wundersame grenzenden Einrichtungen, zu denen neben Gasbeleuchtung, fließendem warmem und kaltem Wasser sowie Spülklosetts auch ein Telegraph gehörte, durch den jederzeit die denkbar schnellste Verständigung zwischen der Brücke, dem Maschinenraum und sämtlichen anderen wichtigen Bereichen des Schiffes gewährleistet war.
    Als die drei Männer aus dem Treppenaufgang vom Inneren des Schiffsbauches wieder auf das Oberdeck traten, waren Beaulieu und Weaver völlig gefangen von dem Gesehenen. Doch Weintraub, der um die sinnesberauschende Wirkung dieser Eindrücke wusste, hatte sich den alles übertreffenden Höhepunkt aller technischen Mirakel mit Bedacht bis zum Schluss aufgespart, um ihn nun zu präsentieren.
    »Das symbolische Glanzlicht von Mr. Brunels unvergleichlichem Genius befindet sich hoch über unseren Köpfen«, ließ er vernehmen, wobei er hinaufdeutete zur Spitze des Großmasts. Beaulieu und Weaver folgten seiner himmelwärts weisenden Geste und erblickten einen in zierliche Eisenstreben gefassten gläsernen Globus von gut vier Fuß Durchmesser am höchsten Punkt des Schiffes.
    »Was ist das?«, fragte der Südstaatler, da er sich den Verwendungszweck des seltsamen Objekts beim besten Willen nicht erklären konnte.
    »Elektrisches

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