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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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betreten an. Sie waren auf der Hut. Eine Stunde zuvor, als das ganze Ausmaß der Katastrophe deutlich wurde, hatte der General voller Verzweiflung über sein Versagen in eigener Person eine letzte Attacke anführen wollen. Nur mit größter Mühe hatten die Männer ihren gebrochenen General davon abbringen können, auf diese Weise den sicheren Tod zu suchen. Und sie waren darauf gefasst, ihn nötigenfalls erneut von einer solchen Torheit zurückzuhalten.
    »Gott, oh Gott, was habe ich getan?«, wimmerte er fast unhörbar leise. Vom Vormittag bis in die Abenddämmerung waren auf seinen Befehl hin die Unionsregimenter wieder und wieder gegen die feindlichen Stellungen oberhalb der Stadt vorgerückt. Sie waren an den Feldbefestigungen der Rebellen zerschellt. Immer neue Wellen blau uniformierter Soldaten hatten sich auf die Konföderierten zubewegt, nur um auf offener Ebene niedergemäht zu werden. Nicht einer der Männer hatte die vorderste Linie der Rebellen erreicht. Sie waren lange vorher im Kugelgewitter verblutet.
    Ein junger Captain mit einem Stoß Zettel in Händen, der seinen Vortrag angesichts von Burnsides labilem Zustand unterbrochen hatte, räusperte sich befangen und fuhr fort: »Die Irish Brigade ist praktisch aufgerieben. Das 20. Maine-Regiment wurde empfindlich dezimiert und liegt noch vor den feindlichen Stellungen. Das 21. Massachu–«
    »Wie viele Tote?«, unterbrach ihn der General mit klangloser Stimme, den Blick weiterhin unbewegt in die endlose Schwärze gerichtet.
    Der Captain zögerte unsicher. »Wir – wir wissen es noch nicht, Sir«, stotterte er. »Zehntausend wenigstens. Mit denen, die in dieser Nacht sterben, werden es aber erheblich mehr sein.«
    Burnside schwieg. Niemand wagte, ein Wort zu sprechen.
    Dann plötzlich erhellte ein Leuchten die Nacht. Unstet wogendes Licht in rasch wechselnden Farben verdrängte die Dunkelheit, wie der Widerschein eines festlichen Feuerwerks. Die Offiziere hoben die Köpfe und blickten erstaunt auf.
    Auch der General schaute zum Himmel. Unerreichbar hoch über ihm tänzelte bunt schillerndes Nordlicht am kristallklaren Himmel.
    »Ihre Seelen. Beim Allmächtigen, ihre Seelen«, keuchte Burnside verstört. Ein Windstoß wehte erneut die zu einem geisterhaften Klagegesang vermengten fernen Schreie der Sterbenden heran. Mit einem gellenden Schrei presste der General die Hände auf seine Ohren.

Washington
    Präsident Lincoln war allein in seinem Arbeitszimmer. Er hatte alle anderen fortgeschickt. Die telegraphischen Meldungen aus Fredericksburg hatten das Kabinett den ganzen Tag hindurch in Atem gehalten und schließlich, als der Nachmittag in den Abend überging, in blanken Horror versetzt. Nun hatte Lincoln sich in die Einsamkeit geflüchtet.
    Wenn es einen schlimmeren Ort als die Hölle gibt, dann befinde ich mich jetzt dort,
dachte er düster. Vor sich auf dem Schreibtisch lag das zuletzt eingetroffene Telegramm, das die vorläufige Anzahl der Gefallenen enthielt.
    In seiner leeren rechten Augenhöhle hämmerte ein schrecklicher Schmerz, der ihn immer heimsuchte, wenn etwas sein Gemüt furchtbar aufwühlte. Mit der gesunden Hand nahm er die Augenklappe ab und rieb sich das brennende Lid.
    Ihm war bewusst, dass dieser grauenvolle Blutzoll noch nicht einmal das Schlimmste war. Vielmehr musste er sich der erschreckenden Erkenntnis stellen, dass der Norden den Krieg möglicherweise verlieren würde. Dass alle, die bislang für die Bewahrung der Union in den Tod gegangen waren, ihr Leben für nichts gelassen hatten. Vielleicht würde das amerikanische Volk, des Tötens müde, die Beendigung des Krieges erzwingen. Dann hätte die Konföderation gesiegt. Die Vereinigten Staaten wären zerbrochen.
    Lincoln blickte auf eine Landkarte an der gegenüberliegenden Wand. Sie zeigte die Nation, wie sie vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs gewesen war. Dreiunddreißig Staaten, vereint, wenn auch uneins in mancherlei Hinsicht. Dazwischen Karolina, das sich als rot umrandeter Zacken zwischen North Carolina und Georgia drängte. Dass eine siegreiche Konföderation früher oder später nach diesem kleinen Stück Preußen greifen würde, stand für ihn außer Frage. Und diese Gewissheit bereitete ihm noch weit größere Sorge als alle Niederlagen zusammen.
    Es galt, eine Katastrophe zu verhindern. Doch durfte er den einzigen Weg, der ihm hierfür zur Verfügung stand, überhaupt beschreiten? Er kämpfte mit sich, versuchte krampfhaft, einen anderen Ausweg aus seinem Dilemma zu

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