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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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kollidierte mit einem Sturm der Empörung zur Linken. Liberale Deputierte sprangen von ihren Stühlen auf, pfiffen, schüttelten zornig die Fäuste und versuchten, den Redner niederzubrüllen.
    »Egoismus!«, rief einer der Liberalen voller Wut. »Nur weil Sie und Ihresgleichen einen Groll wider die Südstaaten hegen, soll hier Hunger herrschen! Kennt Ihr Fanatismus keine Grenzen?«
    »Preuss! Wie viele Ihrer schwarzen Rassebrüder haben Sie schon von drüben in unser hungerndes Land geholt?«, schrie ein anderer.
    Dann brachen die Dämme. Die Abgeordneten gingen aufeinander los, ihre Rage entlud sich in Handgreiflichkeiten. Der Präsident rief zur Ordnung, aber niemand hörte ihn.
    »Gehen wir«, meinte Rebekka ernüchtert und erhob sich. »Dieses deprimierende Schauspiel will ich mir nicht antun.«
     
    Der Lärm aus dem Sitzungssaal verfolgte die Frauen durch das Treppenhaus und hallte ihnen selbst noch im Vestibül hinterher. Sie wollten nur rasch ins Freie und dieses entwürdigende Getümmel hinter sich lassen. Doch als sie aus dem Portal traten, erwartete sie ebenfalls lautes Durcheinander, wenn auch von gänzlich anderer Art. Scharen von Menschen strömten in aufgeregter Eile die Straße hinab.
    Weder Rebekka noch Amalie konnten sich erklären, was in die Leute gefahren sein mochte. Sie stiegen die Treppe hinab und versuchten, aus dem Stimmengewirr etwas Erhellendes herauszuhören. Als das nichts fruchtete, hielt Amalie stracks einen vorbeilaufenden Jungen am Ärmel fest und fragte ihn, wohin er überhaupt wollte.
    »Zum großen Schiff!«, antwortete er zappelig, entwand sich dem Griff und rannte weiter.
    Rebekka runzelte die Stirn. »Welches Schiff?«
    »Das frage ich mich allerdings auch«, entgegnete Amalie ebenso irritiert. »Was immer damit gemeint ist, es hat sich jedenfalls wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Folgen wir einfach den ganzen Menschen, dann werden wir schon herausfinden, was los ist.«
    Die Schuldirektorin stimmte zu; das erschien ihr erheblich einfacher, als vorüberhetzende Passanten zum Stehenbleiben und Beantworten von Fragen zu bewegen. Also reihten sie sich in die Masse ein, die zur Südspitze der Unterstadt strebte.
     
    Dicht gedrängt standen die Menschen auf der Uferpromenade. Um etwas sehen zu können, hatten manche schon die Sockel der Statuen preußischer Geistesgrößen erklommen, die im Wechsel mit breitkronigen Palmettobäumen die Landseite der Straße säumten. Rebekka gelang es, sich energisch einen Weg durch die Menge zu bahnen, und Amalie folgte ihr dabei wie ein Boot, das im Kielwasser eines vorausfahrenden Schleppers segelt. Unter Aufbietung von viel Durchsetzungsvermögen erreichten schließlich beide den eisernen Zaun, der die Promenade an der Quaimauer begrenzte. Und was sie von dort aus sahen, ließ sie alles andere vergessen.
    In der Bucht von Friedrichsburg lag ein Dampfschiff von gigantischer Größe. Ein nachtschwarzes Monstrum mit fünf Schloten, sechs weit in den Himmel ragenden Masten und haushohen seitlichen Schaufelrädern, das jedes andere Schiff in seiner Umgebung zur Zwergenhaftigkeit schrumpfen ließ.
    Ein finsterer Titan hatte Besitz von der Bucht ergriffen.
    Weder Amalie noch Rebekka vermochten, ihrer Verwunderung schnell Herr zu werden. Sie starrten überwältigt auf den schwimmenden Koloss, stumm vor Staunen. Endlich gelang es Amalie als Erster, ihre Gedanken wieder zu ordnen.
    »Das kann nur die
Great Eastern
sein«, sagte sie wie erschlagen von dem Anblick des riesenhaften Dampfschiffs. »Warum ist sie hier?«
    »Ich weiß es nicht. Aber sie macht mir Angst«, erwiderte Rebekka leise.
     
    »Gentlemen, es ist mir eine Ehre, Sie an Bord der
Great Eastern
willkommen zu heißen.«
    Falls Kapitän Walter Paton nicht recht wohl war mit den neuen Herren des Schiffes, für das er die Verantwortung trug, so verbarg er diese Gefühlsregungen mit wahrhaft britischer Unerschütterlichkeit. Nichts an seinem Verhalten ließ erahnen, dass ihm diese Situation nur wenig behagte, und sein von traurig herabhängenden Koteletten gerahmtes Gesicht, das an einen melancholischen Basset denken ließ, verriet auch nichts über seine Empfindungen.
    Charles Beaulieu und Jeremiah Weaver, die bei der Nachricht vom Eintreffen des Schiffes sogleich zum Hafen geeilt waren und sich mit einer Barkasse hatten übersetzen lassen, nahmen die Begrüßung durch den Kapitän entgegen und versicherten ihm, dass die Ehre ganz auf ihrer Seite sei.
    Der Kommandant und die Offiziere des

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