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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Dezember
Preußisch-Pagot
    Man konnte der Ortschaft auf den ersten Blick ansehen, dass sie jung war. An den schmucklosen Gebäuden, aus roten Backsteinen errichtet oder mit kaum verzierten Putzfassaden versehen, hatten Wind und Wetter noch keine nennenswerten Spuren hinterlassen. Das war kein Wunder, denn Preußisch-Pagot verdankte seine Existenz alleine der erst fünfzehn Jahre zuvor eröffneten Bahnlinie. Hier, wo aus North Carolina eintreffende Baumwollballen und Reisende gleichermaßen von amerikanischen in preußische Züge wechseln mussten, war rund um den Grenzbahnhof ein Dorf entstanden. Die lockere Ansammlung dreier Gasthöfe unterschiedlicher Preiskategorien, einiger Eisenbahnerwohnhäuser sowie einer Handvoll kleiner Geschäfte als Stadt zu bezeichnen, wäre einer maßlosen Übertreibung gleichgekommen. Und Preußisch-Pagots Pendant auf der anderen Seite der Grenze, North Pagot, war sogar von noch bescheideneren Dimensionen.
    Mit Ausbruch des Bürgerkriegs war Friedhofsruhe in Pagot eingekehrt. Doch seitdem urplötzlich täglich viele Hundert Ballen Baumwolle aus ganz North Carolina ankamen und für den Weitertransport nach Friedrichsburg auf Waggons der Karolinischen Nordbahn umgeladen wurden, herrschte wieder geschäftiger Betrieb auf dem Bahnhof. Nirgendwo passierte mehr Baumwolle, die für den unermesslich scheinenden Bauch der
Great Eastern
bestimmt war, die preußische Grenze.
    Aus eben diesem Grund waren dort einige Dutzend Menschen, vorwiegend Schwarze, aus allen Teilen der Provinz zusammengekommen. Um die Beförderung der Baumwolle zu unterbinden, hatten sie die Gleise des Bahnhofs besetzt. In Sprechchören hatten sie gegen die indirekte Unterstützung protestiert, welche der Konföderation durch Duldung des Transports zuteilwurde, und gefordert, dass die Behörden die Fahrt des Riesenschiffes unterbinden solle. Sie waren nicht viele gewesen, denn selbst die mehrheitlich strikt gegen die Sklavenhalter eingestellten Schwarzen Karolinas mochten sich nicht der Beschaffung von Getreide für die hungernde Bevölkerung der Südstaaten entgegenstellen. Doch in Anbetracht der zunehmend labilen Zustände in Karolina hatte ihre bloße Anwesenheit genügt, um die Obrigkeit nervös zu machen. Die Kreisverwaltung war vor einer Räumung des Geländes durch Schutzmänner zurückgeschreckt und hatte es vorgezogen, die Angelegenheit an übergeordnete Stellen weiterzureichen. Als dann auch noch offizielle Beschwerden von namhaften Anteilseignern der
Great Eastern
eingegangen waren, verbunden mit der Androhung hoher Regressforderungen, hatte man schließlich überstürzt Wilhelm Pfeyfer nach Pagot beordert, mit dem Auftrag, die Situation schnellstmöglich zu bereinigen.
    Inzwischen wusste der Major, wie unversehens bei derartigen Zusammenrottungen Unmut in Aggression umschlagen konnte. Jeder Versuch, die Bahngleise durch Gendarmen räumen zu lassen, hätte allzu leicht zum Ausbruch von Gewalt führen können. Zudem war er auch nicht mehr sicher gewesen, ob die Gendarmen einem solchen Befehl überhaupt Folge leisten würden oder sich ein Teil der Männer auf die Seite der Protestierenden schlüge. Ein solches Vorkommnis hätte die ohnehin wankende staatliche Autorität zusätzlich beschädigt.
    Um solche Kalamitäten zu verhindern, hatte Pfeyfer nur eine Möglichkeit gesehen. Er war, so schwer es ihm auch fiel, an Rebekka Heinrich herangetreten und hatte sie ersucht, kurzfristig mit ihm nach Pagot zu fahren und auf die dort Versammelten einzuwirken. Die Direktorin hatte sich seiner Bitte nicht verweigert und so waren sie gemeinsam mit dem Schnellzug an die Grenze gefahren.
     
    In Pagot trafen sie auf einen Mann, der als Repräsentant der Victoria-Reederei vehement ein sofortiges Einschreiten zur Beendigung der Blockade verlangte. Die Begegnung erwies sich als umso unerfreulicher, als es sich um Charles Beaulieu handelte. Der Südstaatler, ohnehin aufgebracht durch die Behinderung der Transporte, hatte den Vorfall auf dem Bahnhof offenbar nicht vergessen, denn er zeigte sich misslaunig und barsch, als er sich abermals mit Wilhelm Pfeyfer und Rebekka Heinrich konfrontiert sah. Doch die Abneigung war durchaus beiderseitig und wurde von allen Beteiligten nur durch die dünne Tünche unabdingbarer Förmlichkeiten überdeckt.
    Beaulieu war anzumerken, wie sehr es ihn verdross, ausgerechnet auf die Unterstützung eines Schwarzen und einer Mulattin angewiesen zu sein, aber Rebekkas Verhalten zeugte von mindestens ebenso

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