Die Fahrt des Leviathan
gerade war Charles Beaulieu einem Abteil der ersten Klasse entstiegen. Er wollte auch lieber gebührenden Abstand zu dem unerquicklichen Südstaatler halten und nickte zustimmend.
Bob ahnte, dass er keine Trinkgelder erwarten durfte. Weniger Passagiere als üblich waren mit dem Zug aus Pagot eingetroffen und bislang hatte keiner von ihnen seine Dienste in Anspruch nehmen wollen. Die Fahrgäste gingen auf dem Weg zum Perronausgang einfach an ihm vorüber.
Er sah hinauf zur großen Uhr an der Stirnwand der Bahnsteighalle. In vierzig Minuten würde der Personenzug aus Borussia kommen. Mit ein wenig Glück, so tröstete er sich, ergab sich dann mehr.
Als Bob die Augen wieder senkte, um vielleicht doch noch einen Reisenden mit schwerem Gepäck ausfindig zu machen, durchfuhr ihn eisiger Schrecken. Keine vier Schritte entfernt ging Charles Beaulieu den Bahnsteig entlang. Sein bloßer Anblick genügte, um Bobs Herz panisch hämmern zu lassen. Alles, was er schon hinter sich gewähnt hatte, drängte mit einem Schlag wieder an die Oberfläche. Der Horror, die Furcht, der Abscheu. Der Hass, der nackte Hass auf diesen Mann.
Dann plötzlich traten alle diese Empfindungen, die eben noch wie rasende Hammerschläge auf seine Seele niedergeprasselt waren, völlig in den Hintergrund. Bob wurde ganz ruhig. Er wusste, was er zu tun hatte.
Seine Hand glitt unter die Uniformjacke und legte sich um den Griff des Colts.
Gemessenen Schrittes, um ja die Distanz zu Beaulieu nicht zu verringern, gingen Rebekka und Pfeyfer den Perron hinab.
»Ihre Einladung muss ich leider ausschlagen«, sagte der Major bedauernd. »Wie die Dinge stehen, werde ich zu Silvester Dienst haben und daher Ihrer Feier nicht beiwohnen können. Doch ich darf Ihnen versichern –«
Unvermittelt fiel Rebekka ihm aufgeregt ins Wort. »Da! Sehen Sie!«
Direkt vor ihnen hatte ein schwarzer Gepäckträger einen Revolver aus der Jacke gezogen und richtete ihn auf Charles Beaulieu , der bereits das Ausgangstor am Ende des Bahnsteigs erreicht hatte und nicht ahnte, was sich hinter seinem Rücken gerade zutrug.
Pfeyfer erfasste die Situation sofort. Er machte einen Satz nach vorne und entriss dem Mann die Waffe.
Völlig überrumpelt starrte der verhinderte Attentäter ihm für einen Moment ins Gesicht. Dann schaute er auf den Colt in der Hand des Majors. Als er sich bewusst wurde, was er beinahe getan hätte, traten Tränen in seine Augen. »Jesus, allmächtiger Jesus, vergib mir!«, wimmerte er verstört.
»Für versuchten Mord sind irdische Richter zuständig«, knurrte Pfeyfer feindselig. Er packte den leise weinenden Gepäckträger fest am Kragen, um ihn abzuführen.
»Warten Sie, Herr Major«, hielt Rebekka ihn zurück. »Sollten wir nicht erst mit dem Mann reden?«
Verständnislos runzelte Pfeyfer die Stirn. »Reden? Wo der Sachverhalt so augenfällig ist? Warum das?«
»Weil ich erfahren möchte, weshalb jemand ausgerechnet Charles Beaulieu zu erschießen versucht. Und das mit einem ungeladenen Revolver.«
Argwöhnisch besah sich der Major den Colt genauer und erkannte, dass er Rebekka Heinrichs Beobachtungsgabe eindeutig unterschätzt hatte. Die Kammern der Revolvertrommel waren tatsächlich allesamt leer.
»Ohne Kugeln kein Mordversuch, Herr Major«, bemerkte Rebekka, als Pfeyfer, der nicht recht wusste, was er von alledem halten sollte, sie fragend fixierte. »Denken Sie jetzt nicht auch, dass wir durch ein Gespräch Licht in diese merkwürdige Angelegenheit bringen sollten?«
Pfeyfer überlegte. Nur zögernd lockerte er den Griff am Kragen und ließ dann ganz los, während er sich misstrauisch umschaute. Die Handvoll Passagiere, die dem Zug entstiegen war, hatte den Bahnsteig bereits verlassen. Es gab keine Anzeichen, dass irgendjemand zum Zeugen des Vorfalls geworden war.
»Kommen Sie mit. Und keine Dummheiten!«, warnte er den Gepäckträger. Er würde wachsam bleiben. Einem Mann gegenüber, der kaltblütig genug war, einen Mord in aller Öffentlichkeit zu versuchen, konfus genug, um dabei die Kugeln zu vergessen, und labil genug, um anschließend in Tränen auszubrechen, musste man Vorsicht walten lassen.
Niemand sonst befand sich zu dieser späten Stunde noch in dem Kaffeehaus gegenüber vom Bahnhofsgebäude. Es mochte bessere Orte für eine vertrauliche Unterhaltung geben, doch keiner war ohne Umstände erreichbar. Rebekka und Pfeyfer hatten sich mit dem Gepäckträger, von dem sie nun wussten, dass sein Name Bob Prinz war, an einem
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