Die Fahrt des Leviathan
dass sie völlig vergaß, den triefenden Toast aus der Hand zu legen. »Rebekka! Sie können unmöglich eine Liaison mit dem Major eingehen!«
»Weshalb nicht? Sie und Doktor Täubrich sind doch auch für alle Welt sichtbar verbandelt.«
»Mit dem feinen Unterschied, dass wir … nun, dass wir uns keine Intimitäten erlauben. Aber wenn eine richtiggehende Affaire zwischen Ihnen und dem Major ruchbar wird, macht Sie das unweigerlich als Schuldirektorin untragbar«, gab Amalie zu bedenken. Nun erst wurde sie der vor Kaffee tropfenden Brotscheibe in ihren Fingern gewahr und legte sie schnell auf den Teller.
Rebekka seufzte. »Glauben Sie, ich bin mir dessen nicht bewusst? Ja, wenn das herauskäme … Selbst hier in Karolina, wo die Sitten erheblich weniger engherzig sind als drüben, könnte ich dann nicht auf Nachsicht hoffen.«
»Bedenken Sie die Folgen. Nicht nur für Sie selbst, für uns alle«, beschwor Amalie die Direktorin eindringlich. Sie sah ihr fest ins Gesicht. »Die Feinde der Mädchenschulen behaupten, Bildung zersetze die weibliche Moral. Liefern Sie diesen Leuten um Himmels willen nicht mit einem Skandal willkommene Munition für ihre Polemiken.«
»Es wird zu keinem Skandal kommen. Wie auch? Der Major ist nun wirklich nicht der Typ Mann, der im Offizierskasino mit seinen Eroberungen prahlt. Und keine von uns beiden wird ihr Wissen Außenstehenden preisgeben. Sie sehen, es besteht nicht die geringste Gefahr, dass etwas an die Öffentlichkeit dringt«, meinte Rebekka beruhigend. In einem entfernten Winkel ihres Gehirns wusste sie, dass sie damit nicht nur Amalies, sondern auch ihre eigenen Befürchtungen zu zerstreuen versuchte.
»Ihr Wort in Gottes Ohr«, entgegnete Amalie stirnrunzelnd.
»Ich bin bereits zufrieden, wenn Gott in dieser Angelegenheit Neutralität wahrt«, bemerkte Rebekka ironisch. »Und nun, nachdem ich meinem weiblichen Drang nachgegeben habe, mich einer Geschlechtsgenossin mitzuteilen, darf ich Ihnen etwas Erstaunliches offenbaren.«
Amalie hob erwartungsvoll die Augenbrauen. »Sie meinen, was Sie bis jetzt erzählt haben, war vergleichsweise unspektakulär? Das ist schwer zu glauben.«
»Und dennoch verhält es sich so«, bekräftigte die Direktorin. Sie überzeugte sich mit einem schnellen Blick über die Schulter, dass die Tür des Salons geschlossen war. Dann beugte sie sich ein wenig zu Amalie vor und begann im Flüsterton: »Halten Sie sich fest. Sie werden nicht für möglich halten, was Major Pfeyfer zu tun gedenkt …«
Leutnant FliegenderSchwarzer-Adler sah zum wohl dreißigsten Mal an diesem Morgen auf die Uhr, die neben dem Portrait des Königs an der Stirnwand des Dienstzimmers hing. Dass es auf Viertel vor zehn zuging und sein Vorgesetzter noch immer nicht da war, wollte ihm nicht in den Kopf. Sollte der Major tatsächlich zu spät kommen? Diese Möglichkeit erschien dem Leutnant zu absurd, um sie ernstlich in Betracht zu ziehen. Eher war er zu glauben bereit, dass die Uhr und sämtliche Kirchenglocken der Stadt fehlgingen.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Wilhelm Pfeyfer trat ein. Sogleich sprang der Leutnant hinter dem Schreibtisch auf und nahm Haltung an.
»Wünsche Herrn Major einen guten Morgen. Bislang keine Nachrichten für den Herrn Major und keine besonderen Vorkommnisse.«
»Gut, gut«, quittierte Pfeyfer die Meldung ungewöhnlich abwesend.
Er bedeutete seinem Stellvertreter, sich wieder zu setzen, und hängte dann Mütze, Mantel und Degenkoppel an den Kleiderständer.
Der Leutnant war sich klar darüber, dass es ihm nicht zustand, auch nur in Gedanken über das Befinden seines vorgesetzten Offiziers zu spekulieren. Doch er konnte nicht anders; irgendwas schien dem Major widerfahren zu sein. Seine Verspätung, sein Auftreten, sogar sein merkwürdig versonnener Gesichtsausdruck unterschieden sich dermaßen von allem, was FliegenderSchwarzer-Adler gewohnt war, dass er einfach nicht umhinkam, sich zu wundern. Doch hütete er sich, etwas davon durchklingen zu lassen.
»Wünschen der Herr Major, dass ich Kaffee bringe?«, erkundigte er sich.
Pfeyfer trat hinter seinen Tisch, ließ sich auf dem Stuhl nieder und streckte die Hand aus, um die bereitliegenden verschiedenfarbigen Stifte zurechtzurücken, unterließ es dann aber doch. »Nein, vorerst nicht«, antwortete er mit kaum wahrnehmbarer Verzögerung. »Zunächst holen Sie mir die Dienstpläne der Bastion Derfflinger für diesen und den kommenden Monat.«
»Jawohl, Herr Major!«
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