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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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schweigen von einem ausgewachsenen Zerwürfnis. Trotzdem weigerte sich Healey noch immer standhaft, seine Hoffnung völlig aufzugeben.
    Doch ein Teil von ihm wusste schon, dass er sich einer Selbsttäuschung hingab. Dass er nicht erleben würde, wie Amalie und der Doktor im Streit auseinandergingen; dass Täubrich keineswegs verschwinden und das Feld räumen würde. Healey ahnte unterschwellig, dass er sich dieser Einsicht nicht mehr lange verschließen konnte. Noch hielt er sie in einem abgeschotteten Teil seines Geistes zurück, eingedämmt durch Illusionen. Nur wurden diese Illusionen unaufhaltsam brüchig.
    Er ärgerte sich, Täubrichs unerquicklichen Namen gehört zu haben, und bekräftigte gegenüber Amalie abermals, dass es ihm ein Vergnügen sei, ihr zu Diensten zu sein.
    Obgleich sich mittlerweile eine beunruhigende stechende Taubheit in seinen Händen ausbreitete und seine Arme sich anfühlten, als könnten sie augenblicklich abfallen, war Healey tieftraurig, als sie schließlich die Schule erreichten. Es gelang ihm sogar noch, den Korb die Treppen hinaufzuwuchten und bis in Rebekkas Wohnung zu bringen. Die erstaunte Direktorin konnte kaum fassen, welche Ladung Healey in ihre Küche schleppte und mit einem erleichterten Keuchen auf dem Tisch abstellte.
    Sichtlich mitgenommen, aber tapfer die Haltung wahrend, schüttelte er sich die Arme aus. Nach Amalies neuerlichem Dank versprach er, am Abend pünktlich zur Feier zu erscheinen, und verabschiedete sich dann.
    Als er gegangen war, versuchte Rebekka den Korb anzuheben, scheiterte jedoch kläglich. »Meine Güte! Wie konnten Sie den Ärmsten bloß ein solches Gewicht durch die halbe Stadt tragen lassen?«, wunderte sie sich vorwurfsvoll.
    »Das war gar nicht meine Absicht«, verteidigte Amalie sich und nahm ihre Haube ab. »Ich wollte einen Dienstmann mit Karre mieten. Aber Alvin bestand darauf, den Korb zu übernehmen. Es war ja furchtbar nett von ihm, aber weiß der Kuckuck, was in ihn gefahren ist.«
    Rebekka verdrehte die Augen. »Männer, das unergründliche Geheimnis des Universums. Wenn er so einen Unfug macht, ist er vielleicht doch heimlich in Sie verliebt.«
    »Und ich bin Königin Viktoria«, erwiderte Amalie lachend. »Kommen Sie, wir wollen uns an die Arbeit machen. Beginnen wir mit dieser Erdnusssauce, von der Sie mir vorgeschwärmt hatten?«
     
    * * *
     
    »In Berlin«, sagte Georg Täubrich mit einem Blick auf die Kaminuhr in Rebekkas Salon, »sind sie uns voraus.«
    »Normalerweise würde ich das vehement bestreiten. Aber diesmal pflichte ich bei«, entgegnete Amalie launig.
    Die Umstehenden lachten; alle verstanden die kleine Spitze. Der Freundeskreis der Direktorin umfasste nahezu ausschließlich Gleichgesinnte, die wie sie selbst wenig Sympathie für das konservative Regime in der fernen Hauptstadt hegten und bei denen Witzeleien auf Kosten der als unangenehm rückständig empfundenen Clique aus Ministern, Beamten und Junkern, die den König umgab, stets auf fruchtbaren Boden fielen.
    Rebekka lachte mit. Sie war sehr erleichtert, dass sich die anfangs recht gedrückte Stimmung auf ihrer Silvesterfeier nun doch noch gelöst hatte. Am späten Nachmittag waren nämlich Nachrichten eingetroffen, die vielen Gästen merklich aufs Gemüt geschlagen hatten. In Borussia, vor noch nicht allzu langer Zeit eine für ihre Ruhe und Friedfertigkeit sprichwörtlich bekannte Stadt, war es bei der Bedürftigenspeisung eines wohltätigen Vereins zu Auseinandersetzungen zwischen Schwarzen und Weißen gekommen. Dutzende, so hieß es, seien dabei schwer verletzt worden. Niemand konnte angesichts solcher Meldungen mit unbeschwerter Zuversicht ins neue Jahr gehen.
    Die Direktorin machte eine scharfzüngige Bemerkung über den König, der das Kunststück fertigbrachte, sich bereits in der Zukunft zu befinden und zugleich den Kopf in der Vergangenheit zurückgelassen zu haben. Dann entschuldigte sie sich und verließ den Salon. Sie hatte das Bedürfnis, für einige Minuten allein mit ihren Gedanken zu sein.
    In ihrem Arbeitszimmer fand sie die Ruhe, die sie suchte. Sie zog die Tür hinter sich zu, schloss die Augen und atmete tief durch.
    Die vergangene Nacht, wie auch die vorhergehende, hatte sie wieder mit Wilhelm Pfeyfer verbracht. Zwischen ihnen war fast aus dem Nichts eine unerklärliche Bindung entstanden, deren Enge und Kraft beide in sich fühlten, ohne dass schwerfällige Worte nötig waren. Nie hatte Rebekka sich einem Menschen so nah gefühlt. Und genau

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