Die Fahrt des Leviathan
FliegenderSchwarzer-Adler erhob sich erneut und eilte aus dem Raum. Wenn der Major in so seltsamer Verfassung war, empfahl es sich zweifellos sehr, besonderen Diensteifer an den Tag zu legen. Wer vermochte schon zu sagen, welche Kleinigkeiten heute ausreichten, um seinen Unmut zu erregen. Der Leutnant hatte jedenfalls nicht die Absicht, es herauszufinden.
Ein Windstoß veranlasste Theodor Fontane, seinen Zylinder festzuhalten. Wie die übrigen Passagiere stand er am Heck des Dampfers R.M.S.
Lady of the Lake,
um einen Abschiedsblick auf Friedrichsburg zu werfen. Viele Mitreisende waren es nicht; kaum jemand, den keine zwingenden Gründe trieben, nahm die mannigfachen Unbequemlichkeiten einer Atlantiküberquerung im tiefsten Winter auf sich. Auch Fontane hätte sich diese Erfahrung lieber erspart, doch man erwartete ihn und seine Artikel in Berlin. Überdies war sein Vorschuss erschöpft, so dass ihm gar keine andere Wahl blieb, als die Reise über den von eisigen Stürmen gepeitschten Ozean anzutreten.
Die
Lady of the Lake
hatte sich bereits vom Quai gelöst; Matrosen holten die armdicken Taue ein, die beim Losmachen von den Pollern ins brackige Wasser gefallen waren und nun große Lachen auf den Decksplanken hinterließen. Das Stampfen der Maschine war kraftvoll, aber noch gemächlich. Mit kleiner Fahrt glitt das Schiff durch die Bucht in Richtung Meer. Als es in kaum hundert Fuß Abstand die um ein Vielfaches größere einstige
Great Eastern
passierte, an deren Heck jetzt in frischen weißen Buchstaben der neue Name
Leviathan
prangte, galt das Interesse der Passagiere ganz dem zum Greifen nah vorbeiziehenden eisernen Seeungeheuer.
Mit Ausnahme Theodor Fontanes. Er hielt die Augen auf das Panorama Friedrichsburgs gerichtet. Bei aller Bewunderung, die er für das technische Wunderwerk empfand, bereitete ihm das Riesenschiff dumpfes Unbehagen. Woran es lag, wusste er nicht. Nur, dass dem abweisend steil aus den Wellen ragenden schwarzen Rumpf etwas Unheilvolles innezuwohnen schien. Zu gewaltig war dieses Schiff, das beinahe wie eine Herausforderung wirkte, gegen wen oder was immer sie auch gerichtet sein mochte. Doch auf jeden Fall eine Herausforderung, die zu groß, zu auftrumpfend war, um ein gutes Ende zu nehmen.
Was für ein Unfug!,
wies Fontane sich zurecht.
Das sind Flausen für einen pietistischen Prediger, aber nicht für mich.
Dennoch konnte er sich nicht überwinden, der
Leviathan
mehr als einige beklommene Seitenblicke zu widmen. Lieber schaute er zurück auf die Stadt mit ihren weißen Gebäuden, der palmengesäumten Uferpromenade und den langen Brücken, welche die breiten Flüsse zu beiden Seiten überspannten. Er hatte die Wochen in dieser fernsten Provinz Preußens genossen. Nie zuvor hatte er einen Landstrich erlebt, in dem alles so vertraut schien, um sich bei genauerer Betrachtung als durchdrungen vom Exotischen herauszustellen. Allenthalben hatte er das Bekannte vorgefunden, doch untrennbar und vielschichtig mit dem Wundersamen verwoben.
Bei aller Faszination hatte er manches auch schmerzlich vermisst. So fehlte ihm die knorrige Schwere der Jahrhunderte, die er daheim in der Mark Brandenburg überall in den Dörfern mit ihren Ziegelkirchen, den nach uraltem Staub riechenden Herrenhäusern, ja sogar der kargen, sandigen Landschaft selbst zu spüren vermeinte. Doch in Karolina, wo nur zweihundert Jahre zuvor die ersten Europäer ihre Blockhütten errichtet hatten, lag über allem eine betrübliche Geschichtslosigkeit. Es gab keine alten Erzählungen, die sich um ehrwürdige Gemäuer oder stille Tümpel inmitten dunkler Fichtenwälder rankten; keine abgeschiedenen Friedhöfe mit efeuumrankten Grabsteinen, deren lateinische Inschriften durch Regen und Frost längst getilgt waren; einfach nichts, was in sich diese ganz spezielle Ahnung von Ewigkeit trug, die nichts Unheimliches an sich hatte, sondern Geborgenheit vermittelte. Karolina hingegen war schrecklich jung.
Jung und ohne die Gebrechen des Alters, die nicht nur Menschen, sondern auch Länder plagen,
dachte Fontane wehmütig. Er liebte Preußen und war fest überzeugt, dass die Flagge mit dem schwarzen Adler auch noch in ferner Zukunft stolz über dem Berliner Schloss wehen würde. Aber sein Aufenthalt in Karolina hatte ihm auch zum ersten Mal bewusst gemacht, dass Preußen alt war. Und alte Knochen waren empfindlich.
Die
Lady of the Lake
hatte derweil die
Leviathan
hinter sich gelassen und passierte die Bastion Derfflinger. Die
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