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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Mündungen der mächtigen Geschütze hoch oben auf den Mauern der Festung wiesen drohend auf die Bucht. Sie garantierten, dass sich die Schmach von 1807 nicht wiederholte, als die Franzosen mit ihren Kriegsschiffen ungehindert bis vor die Stadt gesegelt waren.
    Aber wenn eine Gefahr für Karolina heraufzieht, gegen die Kanonen nichts ausrichten können?,
fragte Fontane sich beunruhigt. Ihm war nicht entgangen, wie sehr sich alleine in der kurzen Zeit seines Aufenthalts die Atmosphäre in der Provinz verändert hatte. Wenn es zum Schlimmsten kam, wenn der Hass zwischen den Rassen sich in einer Eruption blindwütiger Raserei entlud, der niemand mehr Einhalt gebieten konnte, was sollte dann aus der Provinz werden?
    Fontane wollte nicht daran denken. Es war einfach zu deprimierend, sich auszumalen, dass dieses schöne Land schon bald in einem Strudel von Gewalt und Anarchie versinken könnte. Weshalb niemand in Berlin, wo die Probleme Karolinas der Regierung doch bekannt sein mussten, auch nur einen Finger rührte, um die Katastrophe abzuwenden, war ihm ein Rätsel. Auf jeden Fall, so hatte er sich vorgenommen, würde er in seinen Artikeln mit deutlichen Worten auf diesen unerhörten Missstand hinweisen.
    Wenn es bis dahin noch nicht zu spät ist.
    Das Dampfschiff fuhr zwischen den Landzungen hindurch und erreichte das Meer. Noch einmal schaute Theodor Fontane zurück auf Friedrichsburg, das nun zu einem weißen Streifen weit hinten in der Bucht geschrumpft war. Dann drehte er sich herum. Er stellte fest, dass die übrigen Passagiere bereits unter Deck gegangen waren, um dem salzigen, kalten Seewind zu entrinnen.
    Den Blick auf die schon leicht schwankenden Planken unter seinen Füßen gerichtet, machte er sich auf, um sich in den angenehm warmen Salon erster Klasse zurückzuziehen.

31. Dezember
    In den Armen trug Alvin Healey einen monströsen Korb, der bis über den Rand mit Lebensmitteln gefüllt war. Obwohl er glaubte, jeden Moment unter der Last zusammenbrechen zu müssen, hielt er sich unter Aufbietung seiner gesamten Willenskraft aufrecht und schaffte es sogar, mit Amalie von Rheine Schritt zu halten. Wiederholt erkundigte sie sich besorgt, ob der Korb denn nicht zu schwer sei. Doch jedes Mal rang er sich ein Lächeln ab, das ihn freilich erhebliche Überwindung kostete, und versicherte, das Gewicht sei nicht der Rede wert.
    Gemeinsam hatten sie an diesem Vormittag über ein Dutzend Geschäfte aufgesucht; nun befanden sie sich auf dem Rückweg zur Schule. Obwohl sich der schwer beladene Healey nur mit Mühe voranschleppen konnte, wünschte er insgeheim, die Strecke wäre noch viel länger. Er verzehrte sich nach jeder Sekunde, die er in Amalie von Rheines Gesellschaft verbringen durfte, ganz wie ein Wanderer in der glühenden Wüste, der über jeden kleinen Wassertropfen in Verzückung gerät.
    Hätte sie sich spontan zu einem Spaziergang von fünf Meilen entschlossen, wäre er ihr klaglos mitsamt dem Korb gefolgt. Wenn nötig sogar mit dem doppelten und dreifachen Gewicht, nur um in ihrer Nähe zu sein.
    »Es ist wirklich ungemein freundlich von Ihnen, mir bei den Einkäufen für die Silvesterfeier zur Hand zu gehen«, sagte die Lehrerin. »Wie kann ich Ihnen dafür nur danken?«
    »Aber ich bitte Sie, das ist doch eine Selbstverständlichkeit, Fräulein Amalie«, keuchte Healey. Im allerletzten Moment wich er mit einem wankenden Seitwärtsschritt einer Wasserpumpe am Rande des Trottoirs aus, die er zuvor nicht hatte sehen können, da eine säulenartig emporragende Fleischwurst sein Blickfeld empfindlich beschränkte.
    »Eine Selbstverständlichkeit wäre es vielleicht für Georg. Sie hingegen sind durch nichts verpflichtet, mir Zeit und Mühe zu schenken, tun es aber trotzdem. Das ist äußerst liebenswürdig«, versicherte sie ihm lächelnd.
    Das Lob aus ihrem Munde erfüllte Healey mit Seligkeit und ihr Lächeln ließ ihn dahinschmelzen. Die Erwähnung Doktor Täubrichs trübte seine Freude allerdings ganz erheblich. Er wollte am liebsten gar nicht an die Existenz des Arztes erinnert werden, wenigstens nicht in Momenten wie diesem.
    In den letzten Tagen hatte Georg Täubrich direkt oder indirekt nahezu jeden seiner Gedankengänge okkupiert. Healey hatte anfangs ganz darauf gesetzt, dass die Liaison zwischen Amalie und dem lästigen Mediziner bald wieder zerbrechen würde. Doch seine Erwartungen waren bislang unerfüllt geblieben. Es gab nicht einmal die allerkleinste Unstimmigkeit zwischen den beiden, ganz zu

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