Die Fahrt des Leviathan
scharfer Munition. Und sobald sie auf meinen Befehl hin das Geschütz auf die ganz nah vorbeifahrende
Great Eastern
ausgerichtet haben, löse ich den Schuss aus, ehe jemand eingreifen kann. Eine Granate in den Rumpf reicht, damit dieses elende Schiff niemals wieder den Ozean überquert.«
»Das ist doch Wahnsinn! Die Soldaten richten nie im Leben grundlos ein geladenes Geschütz auf ein Schiff.«
»Sie haben einen Grund: meinen Befehl, es zu tun«, erklärte Pfeyfer. »Der Ranghöchste in der Festung ist momentan ein schlichter Sergeant auf Offiziersstelle. Was ein Major anordnet, wird er ausführen, als hätte ihm Gott persönlich die Order erteilt. Der berühmte preußische Gehorsam ermöglicht das. Es wird funktionieren.«
»Aber was wird dann aus Ihnen?«, fragte Rebekka fassungslos. »Man wird Sie mit Schimpf und Schande aus der Armee jagen, Sie ins Zuchthaus sperren. Ihr ganzes Leben wäre –«
Pfeyfer sah ihr in die Augen und sie verstummte. Sein Blick ließ sie erkennen, dass er sich der unausweichlichen Folgen seines Tuns bewusst war. »Wie lange würde ich wohl mein Leben aushalten, wenn ich wüsste, dass ich der Sklaverei, der perversesten Institution der Menschheit, zum Sieg verholfen habe? Lieber verbringe ich den Rest meiner Tage mit reinem Gewissen im Gefängnis, als mitzuerleben, wie ich mich jeden Tag mehr durch Selbsthass zerfleische«, sagte er grimmig entschlossen.
»Nun ist es Ihnen gelungen, mich in Erstaunen zu versetzen«, meinte Rebekka mit leiser Bewunderung. »Nie hätte ich geglaubt, dass Sie für Ihr Gewissen und gegen Ihre Pflicht entscheiden könnten.«
»Ich habe mich keineswegs gegen meine Pflicht entschieden«, stellte er richtig. »Aber durch Sie habe ich endlich begriffen, dass Pflichterfüllung mehr ist als das Befolgen von Befehlen. Unendlich viel mehr.«
Rebekka war ergriffen. Sie setzte an, etwas zu sagen; aber dann stellte sie sich einfach auf die Zehenspitzen und drückte Pfeyfer einen Kuss auf die Lippen.
»Für Ihre Courage«, hauchte sie. Noch bevor der gänzlich überrumpelte Pfeyfer darauf reagieren konnte, wirbelte sie herum und eilte zur Haustür.
»Ich muss los, ehe die Frühaufsteher unter Ihren Nachbarn mich sehen könnten«, lachte sie. »Wir wollen doch unser beider guten Ruf nicht gefährden, lieber Major Pfeyfer.«
»Wilhelm. Ich meine, falls Ihr Angebot noch gilt, dass wir uns duzen könnten … Nun ja, mein Name ist Wilhelm«, sagte er verlegen.
Die Direktorin runzelte spöttelnd die Nase. »Wilhelm … nein, das hat für mich einen unschönen Klang, nach klirrendem Eisen und modrigem Staub. Willi ist besser. Und dass ich Rebekka heiße, weißt du ja bestens aus deinen vielen Berichten über mich.«
Sie öffnete die Tür und wollte bereits hinausgehen, als Pfeyfer noch etwas einfiel. »Warte! Wir sind ja gar nicht dazu gekommen, dein Redemanuskript durchzugehen.«
»Das macht nichts«, entgegnete Rebekka beschwingt. »Ich kann ja morgen Abend noch einmal vorbeikommen.« Sie zwinkerte ihm kess zu und verschwand ins Freie.
Pfeyfer spürte plötzlich einen Kloß in der Kehle. Und ein seltsames Kribbeln in der Magengegend.
Irgendwie war ihm, als würde er mit den Füßen nicht mehr auf festem Boden stehen. Er fühlte sich glücklich.
* * *
Amalie ließ den Marmeladentoast in die Kaffeetasse fallen.
»Sie haben
was
mit Major Pfeyfer?«, entfuhr es ihr fassungslos.
Rebekka legte den Fransenschal ab und setzte sich zu der Lehrerin an den Frühstückstisch. »Ja, ich weiß, es klingt bizarr«, sagte sie, wobei sie offenbar selbst einige Probleme hatte, das Geschehene recht zu begreifen. »Doch irgendwie … herrje, ich bereue es ganz und gar nicht.«
Mit den Fingerspitzen fischte Amalie die durchweichte Toastscheibe aus dem Kaffee. »Seit der Erkenntnis, dass die Gaben am Heiligen Abend nicht von Sankt Nikolaus und Knecht Ruprecht gebracht werden, sondern von meinem Großvater und seinem Kutscher in Verkleidung, hat mich wohl nichts so unvorbereitet getroffen«, stellte sie verblüfft fest. Und mit erwachender Wissbegier setzte sie nach sehr kurzem Überlegen hinzu: »Es war demnach … nicht ganz unerfreulich?«
»Das Wenige, woran ich mich erinnern kann, ganz gewiss nicht. Ich hoffe freilich, dass sowohl ich als auch Willi – ich meine Major Pfeyfer – bei unserer nächsten Begegnung bei klarem Verstand sind, damit ich mir ein besser fundiertes Urteil bilden kann.«
»Sie meinen …? Ach du liebes bisschen!« Amalie war so bestürzt,
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