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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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das setzte ihr zu. Sie fühlte sich grässlich. Ihr Gewissen zerriss sie innerlich.
    Mittlerweile war sie sich ganz und gar nicht mehr sicher, ob sie zulassen konnte, dass Pfeyfer die
Leviathan
versenkte. Natürlich wünschte sie sich nichts mehr, als dass die Sklavenhalter das Schiff mitsamt der unersetzlichen Ladung verlören. Aber wenn sie an den Preis dachte, lief ihr ein eisiger Schauder durch den Körper. Und ohne sie, das war Rebekka mit brutaler Deutlichkeit bewusst geworden, wäre der Major niemals auf diesen Gedanken verfallen. Er warf sein Leben ganz allein ihretwegen fort.
    Ihr Kopf schwirrte. Was sollte sie tun? Pfeyfer würde sich nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen, das war ihr klar. Das einzige Argument, das sie anführen konnte, war die Sorge um sein Geschick. Und das war zu wenig. Inzwischen verstand sie ihn gut genug, um zu wissen, dass ihm sein eigenes Wohlergehen nichts bedeutete. Dafür war er zu selbstlos in seiner absoluten Hingabe an das, was er als seine Pflicht empfand. Seine Ehre gestattete ihm nicht, an sich selbst zu denken. Er konnte gar nicht anders, als den Weg, auf den sie ihn einmal geführt hatte, bis zum bitteren Ende zu gehen.
    »Gott, was habe ich bloß angerichtet?«, stöhnte Rebekka der Verzweiflung nahe.
    Ein Klopfen an der Tür ließ sie aufschrecken. Auf der Stelle verbannte sie alles aus ihren Gesichtszügen, was Rückschlüsse auf ihre Gemütslage zugelassen hätte, und forderte dann in einem vielleicht eine Spur zu lebhaften Tonfall zum Eintreten auf.
    Carmen Dallmeyer kam herein und wirkte sehr erleichtert darüber, die Direktorin anzutreffen. »Wie gut, dass ich Sie gleich gefunden habe. Es gibt ein ernstes Problem«, sprudelte sie hervor.
    »Was für ein Problem kann das schon groß sein?«, murmelte Rebekka. Als sie gewahr wurde, dass sie ihre Gedanken versehentlich ausgesprochen hatte, fügte sie augenblicklich hinzu: »Ich bin nämlich sicher, dass wir sogleich einen Ausweg finden, worum auch immer es sich handeln mag.«
    »Das hoffe ich, denn Gerda ist schon völlig aufgelöst. Sie wollte die Sektflaschen heraufholen, kann aber den Kellerschlüssel nirgends finden«, erklärte Carmen. »Die Ärmste stellt gerade die ganze Küche auf den Kopf und wird immer panischer. Immerhin geht es auf Mitternacht zu.«
    Rebekka hätte um ein Haar bitter aufgelacht. Diese Sorgen schienen ihr so bedeutungslos im Vergleich zu dem, was sie plagte. »Die Gute hätte gleich zu mir kommen sollen, denn ich habe einen Zweitschlüssel«, meinte sie, öffnete eine der Schubladen ihres Schreibtisches und holte ein Bund mit Schlüsseln unterschiedlicher Größe und Form hervor. »Na dann, lassen Sie uns Gerda von ihren Ängsten erlösen. Am besten gehen wir gemeinsam hinunter, die Flaschen sind doch ziemlich schwer und unhandlich.«
    Sie drehte die Gasflamme des Wandleuchters herunter, bis nur noch ein fades Glimmen auf dem Brenner tänzelte. Dann verließ sie mit Carmen das Arbeitszimmer. Es galt, die Gläser der vielen Gäste rechtzeitig zum Jahreswechsel zu füllen.
     
    Alvin Healey war aus dem Salon geflüchtet. Amalie von Rheine den ganzen Abend an der Seite von Doktor Täubrich zu sehen, ertrug er nicht. Es trieb ihn in den Wahnsinn, wie sie bei jeder Gelegenheit schmachtende Blicke austauschten, und jedes Mal wenn der Arzt sich erdreistete, ihre Hand zu berühren, wollte er ihm am liebsten an die Gurgel gehen. Hilflose Wut brodelte in ihm. Er wusste, dass es ihn bald unweigerlich wieder in Amalies Nähe ziehen würde, aber bis dahin musste er an einem ruhigen Ort wieder zur Besinnung kommen und neue Kraft schöpfen, um den Rest dieser Silvesternacht zu überstehen.
    Auf dem Flur drängte Healey sich hastig zwischen plaudernden Gästen hindurch und gab kaum verständliche Entschuldigungen von sich. Ihm war einerlei, was man von ihm dachte, er wollte einfach nur irgendwo ungestört für sich sein.
    Gibt es denn in dieser großen Wohnung keinen einzigen Raum, in dem ich verdammt noch mal meinen Frieden habe?,
dachte er, als er überall Leute vorfand. Dann jedoch fiel ihm eine Tür auf, die einen Spalt weit offen stand. Keine Stimmen drangen aus dem Zimmer dahinter. Er ging hinein und stellte fest, dass er den Ort gefunden hatte, den er jetzt brauchte. Es handelte sich offenbar um die kleine Bibliothek der Schuldirektorin; Vitrinenschränke voller eng nebeneinander aufgereihter Bücher säumten die Wände des kleinen Salons, in dem sich ansonsten nur zwei Polstersessel befanden

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