Die Fahrt des Leviathan
sowie ein runder Tisch, auf dem einige Tabletts mit noch leeren Sektgläsern zweifellos darauf warteten, kurz vor Mitternacht befüllt zu werden. An der gegenüberliegenden Seite des Raums flankierten schwere dunkelgrüne Samtvorhänge, deren goldene Fransensäume den Parkettboden berührten, ein Fenster.
Healey fand, dass er etwas frische Luft vertragen könne. Er ging hinüber zu dem Fenster, öffnete es weit und zog die Vorhänge hinter sich zu. Die Fensternische bot ihm genügend Platz, um sich auf diese Weise zu verbergen. Falls jemand die Bibliothek betrat, wollte er unbemerkt bleiben und nicht zu einer Unterhaltung genötigt werden. Ihm stand der Sinn nicht nach Geselligkeit.
Nachdem er zweimal tief durchgeatmet und die feuchte Nachtluft in sich aufgesogen hatte, blickte Healey gedankenschwer hinaus in die Dunkelheit, aus der hell erleuchtete Fenster und Straßenlaternen hervorstachen.
Ich habe mir die ganze Zeit etwas vorgemacht,
gestand er sich niedergedrückt ein.
Es wird nicht zu einem Zerwürfnis zwischen Fräulein Amalie und diesem Quacksalber kommen. Im Leben nicht erhalte ich die Chance, die ich mir ersehnt habe. Nie!
Die Lichter in der Nacht verschwammen. Tränen traten in seine Augen. Und in einer finsteren Gegend seines Gehirns sah er sich bereits aus dem Fenster springen, kopfüber, damit sein Schädel auf dem Straßenpflaster zerschellte.
Der kurze Schmerz schreckte ihn kaum, viel weniger als die Schmerzen, die das Weiterleben für ihn bereithielt.
»Ja, das habe ich heute Morgen auch in der Zeitung gelesen«, bestätigte Amalie. »Ist es nicht unfassbar, dass dieses riesige Schiff in so kurzer Zeit vollständig beladen wurde?«
Therese Ewers, die eine kleine private Mädchenschule führte und ihre überdurchschnittliche Körpergröße durch ein quirliges Auftreten unterstrich, nickte lebhaft. »Ich war ebenfalls erstaunt und erkundigte mich daher bei der Gattin des Hafenmeisters, deren Tochter ich unterrichte. Und ich erfuhr, dass der Lotse für die
Leviathan
tatsächlich für den Mittag des dritten Januars bestellt wurde. Auf gar keinen Fall möchte ich versäumen, wenn sie ausläuft.«
»Rebekka und ich wollen uns dieses Schauspiel auch nicht entgehen lassen. Wir werden zeitig am Morgen aufbrechen, um uns gute Plätze auf der Uferpromenade zu sichern«, ließ Amalie sie wissen. Selbst der aufmerksamste Zuhörer hätte den sphinxhaften Unterton, der in ihren Worten mitschwang, kaum wahrgenommen. »Es wird ganz gewiss ein einzigartiger Anblick sein … absolut einzigartig.«
Mit einem verkniffenen Lächeln auf den Lippen folgte Georg Täubrich dem Gespräch, ohne selbst etwas zu sagen. Er hatte schon am Tag zuvor von Jeremiah Weaver erfahren, dass die
Leviathan
am Sonnabend ihre Fahrt antreten würde. Nun kämpfte er mit sich. Wie sollte er Amalie erklären, dass er sich auf eine gefährliche Reise begab? Er hatte diese schwere Aufgabe viel zu lange vor sich hergeschoben; heute Abend musste er sie einweihen. Doch sie würde ihn zweifellos bestürmen, von diesem Vorhaben abzurücken. Dann musste er widerstehen und sie zu überzeugen versuchen, dass er diese Gelegenheit nicht vertun durfte.
Musste er wirklich?
In Täubrich nagten Zweifel. Vielleicht war das Ganze eine Schnapsidee, riskant und nutzlos. Machte es denn einen Unterschied, ob Rebekka Heinrich durch seinen Brief aus Hamburg zwei oder drei Wochen früher erfuhr, was die
Leviathan
den Konföderierten nun wirklich aus Europa herüberbrachte? Sollte er sich dafür der Gefahr aussetzen, als Spion entlarvt und vielleicht mitten im Atlantik über Bord geworfen zu werden? War es das wert?
Mit einem Mal erkannte er die ganze Unsinnigkeit seines Vorhabens. Ein solches Wagnis einzugehen, das in keinem Verhältnis zum möglichen Nutzen stand, war nicht Ausdruck von Mut, sondern von schierer Dummheit. Er würde nicht an Bord sein, wenn die
Leviathan
den Hafen verließ. Amalie sollte erfahren, was er vorgehabt hatte und dass er nun wieder zur Vernunft gekommen war. Der lächerlichen Chimäre des Heldentums beabsichtigte er nicht nachzujagen.
Ein Stupser ihres Zeigefingers gegen seine gestärkte Hemdbrust riss ihn unversehens aus seinen Grübeleien. »Hörst du mir überhaupt zu? Oder schwebt der Herr Doktor gerade über den Wolken?«, fragte sie neckend.
»Es tut mir leid, ich war … abwesend«, entschuldigte Täubrich sich verlegen. »Ich musste eben an eine sehr wichtige Angelegenheit denken, über die ich gerne in Ruhe mit dir
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