Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
der Mittelpunkt der karolinischen Provinzhauptstadt war. Dort am Prinzenplatz, der an seinen Rändern von Doppelreihen ausladender Palmettobäume gesäumt wurde, liefen sternförmig die vier Boulevards zusammen, aus deren schnurgeraden Strahlen das gesamte Straßennetz Friedrichsburgs erwuchs. Die Nordseite des großzügig, aber nicht übertrieben weitläufigen Platzes nahm das Regierungspräsidium ein, ein Gebäude mit einem Portikus korinthischer Säulen, die einen dreieckigen Giebel nach griechischem Vorbild trugen. Hier residierte der Oberpräsident und leitete im Namen des Königs jenseits des Ozeans die Verwaltung der Provinz Karolina. Vor dem Portal übten grün berockte Soldaten vom Bataillon der Karolinischen Jäger ihren Einsatz als Ehrenkompanie für den Monarchen, indem sie unter den zackigen Befehlen ihres Leutnants unablässig das exakt synchrone Präsentieren der Gewehre übten.
    Auf der anderen Seite des Prinzenplatzes hatte das Regierungspräsidium im Justizpalast ein nahezu zwillingsgleiches Gegenstück. Beide unterschieden sich nur im Giebelschmuck, denn während das Oberpräsidium dort das in Marmor gemeißelte große Wappen des Königreiches aufwies, trug der Justizpalast hoch über dem Eingangsportal eine Statue der Justitia, über deren Kopf der gekrönte preußische Adler mit Zepter und Reichsapfel in den Fängen die Flügel ausbreitete. Am östlichen Rand des Platzes standen neben dem Hôtel Borussia die Sitze verschiedener Behörden, darunter die Militärverwaltung, während der Süden ganz von der Fassade des Königlichen Karolinischen Opernhauses dominiert wurde. Es ähnelte dem Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt, was durchaus kein Zufall war. Karl Friedrich Schinkel hatte beide entworfen. Auch dass der Prinzenplatz ein Ensemble von makelloser Harmonie und Geschlossenheit bildete, war sein Verdienst. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, sämtliche Gebäude mit Blick auf die Gesamtwirkung selber zu entwerfen, und sich dabei jeder noch so unscheinbaren Kleinigkeit mit Hingabe gewidmet.
    Im exakten Zentrum des Platzes schließlich erhob sich auf einem hohen Granitsockel das Reiterstandbild des Mannes, dem Preußen den Besitz eines Stückes Amerika verdankte. Prinz Heinrich, der Bruder Friedrichs des Großen, ritt in die Ewigkeit, von Johann Gottfried Schadow überlebensgroß in Bronze gegossen.
    An diesem Tag war der Platz von außergewöhnlicher Aktivität erfüllt. Der Besuch König Wilhelms warf seine Schatten voraus, die Vorbereitungen für sein Eintreffen wurden rastlos vorangetrieben. Mit laut hallenden Hammerschlägen montierten Arbeiter die hölzernen Gestelle mehrerer haushoher Ehrenpforten, die später eine Dekoration aus Pappe, Gips und reichlich frischem Grün erhalten würden. Die Fassaden der Gebäude waren schon jetzt mit unzähligen schwarz-weißen Flaggen behängt, was dem Betreiber des Hotels wohl immer noch unzureichend erschienen war. Er hatte zwischen zwei Fenstern ein gut zwanzig Fuß langes Spruchband spannen lassen, das in großen Buchstaben
Vivat Guillermus Rex Pater Patriae
verkündete.
    »Schau einer an, die gute Stube wird herausgeputzt«, kommentierte Rebekka Heinrich ironisch, wobei sie ihren Reifrock an einem Stapel Holzlatten vorbeimanövrierte. »Viel Aufwand, wenn man bedenkt, dass eigentlich ja nur ein übellauniger alter Mann kommt, dessen Besuch bei Weitem nicht alle erfreut.«
    »Das sind gefährliche Worte«, bemerkte Amalie von Rheine besorgt. »Besonders aus dem Munde einer Staatsdienerin, die doch dem König gegenüber zu absoluter Loyalität verpflichtet ist.« Sie verspürte den Drang, sich rasch umzuschauen, um sich zu vergewissern, dass auch niemand ihr Gespräch belauschte, beließ es dann jedoch bei einem kurzen Seitenblick aus dem Augenwinkel.
    Die Direktorin bemerkte Amalies Verunsicherung, sprach aber unbeirrt weiter. »Ich bin zunächst und vor allem verpflichtet, meinen Verstand zu gebrauchen. Und der sagt mir, dass die Probleme Preußens und ganz besonders Karolinas mit diesem König nicht geringer, sondern nur noch größer werden. Es wird kein gutes Ende nehmen«, prophezeite sie sachlich. Ihre Stimme war ruhig, doch irgendwo vibrierte unterdrückter Zorn unhörbar leise mit. Amalie wusste bereits, dass ihre Vorgesetzte sich den Luxus einer ausgeprägten eigenen Meinung leistete, und das auch auf Gebieten, von denen man es allgemein als unverrückbare Tatsache ansah, dass sie von Natur aus das Fassungsvermögen weiblicher Gehirne

Weitere Kostenlose Bücher