Die Fahrt des Leviathan
ist. Was gibt es an diesem Ort der Welt, das nicht perfekt wäre?«
»Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Oder was zu glänzen scheint, Herr Fontane«, entgegnete Rebekka trocken.
Doch der Journalist mochte nicht wahrhaben, dass ihm etwas entgangen sein könnte. »Welche Fehler sollte dieser wunderschöne Ort denn haben? Ich habe bislang keinen Makel feststellen können.«
»Es gibt Probleme, die sich der Wahrnehmung des bloß oberflächlichen Betrachters entziehen«, meinte die Direktorin ernst, wobei der Klang ihrer Stimme zunehmend härter wurde. »So etwa der Umstand, dass viele Bewohner Karolinas keine Arbeit mehr haben, und es werden täglich mehr. Eine wachsende Zahl von Menschen, die ohne Lohn und Brot sind, deren Familien Not leiden, stellt doch sicher auch in ihren Augen nicht bloß einen Schönheitsfehler dar, Herr Fontane?«
»Ich war mir dessen noch gar nicht bewusst. Aber was ist die Ursache? Womöglich eine Auswirkung dieses Krieges?«
»Ganz recht. Eine Textilfabrik nach der anderen muss schließen, weil die rebellierenden Südstaaten keine Baumwolle mehr ausführen. Die Lagerhäuser sind inzwischen fast leer. Der Rinnsal eingeschmuggelter Baumwolle und die geringen Mengen, die wir im Lande selbst anbauen können, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Der Hauptpfeiler der Wirtschaft in dieser Provinz droht einzustürzen, und welche Gefahren das für Stabilität und Sicherheit birgt, brauche ich Ihnen bestimmt nicht darzulegen.«
Fontane nickte wortlos. Dass er von einer Frau eine Nachhilfelektion in politischen Angelegenheiten erhalten hatte, bereitete ihm sichtlich Unbehagen. Doch er besaß genug Einsicht, die zutreffende Darstellung nicht aus verletztem Stolz als gegenstandslos abzutun. Ihm war anzumerken, dass die neuen Erkenntnisse über die Zustände in Karolina ihn nachdenklich werden ließen.
Noch bevor er das Ergebnis seiner Gedankengänge mitteilen konnte, ertönten Glockenschläge vom Turm der Petrikirche, der abseits des Prinzenplatzes das Opernhaus überragte. Fontane horchte auf. »Schon so spät?«, entfuhr es ihm überrascht. »Himmel, ich komme zu spät. Der Leiter des Provinzialarchivs erwartet mich und er schien mir ein unduldsamer Mann zu sein, was Unpünktlichkeit angeht.«
Er bat die beiden Lehrerinnen um Verzeihung für seinen unvermittelten Aufbruch, nahm sich aber trotz seiner Eile noch die Zeit, formvollendet den Zylinder zu ziehen und eine Verbeugung anzudeuten, ehe er sich eilig entfernte.
»Ein interessanter Mann«, sagte Rebekka, während sie ihm nachblickte.
»Das ist er wirklich«, bestätigte Amalie. »Er weiß viel zu erzählen. Ich würde doch wirklich zu gerne mal eine seiner Reportagen lesen.«
»Nun, ich hoffe, dass er sich für seine Artikel nicht so leicht vom schönen Schein blenden lässt, sondern auch mal hinter die Kulissen … oh! Sehen Sie, dort!«
Sie zeigte auf ein Dutzend Arbeiter, die Bühnendekorationen vom Opernhaus zum Regierungspräsidium hinüberschafften, darunter einen mannsgroßen Preußenadler aus Pappmaché, dessen weit ausgebreitete Flügel von zwei Leuten gestützt werden mussten.
»Das wird sicher dazu dienen, den großen Saal für den Ball herzurichten«, vermutete die Direktorin. »Es dürfte ganz imposant aussehen, solange man es nur aus der Distanz betrachtet. Wir werden uns ja selbst davon überzeugen können. Sie begleiten mich doch?«
»Zum Ball?«, fragte Amalie erstaunt. »Sie – Sie haben eine Einladung für den Ball zu Ehren des Königs?«
»Aber natürlich. Das heißt, ich habe seit einigen Wochen die Ankündigung, dass ich eine Einladung erhalten werde. Die Abreise des Königs hat sich ja wegen seiner politischen Misshelligkeiten immer wieder verzögert, darum stand der Termin lange nicht fest. Aber ich gehe davon aus, dass die endgültigen Einladungen heute oder morgen eintreffen. Möchten Sie mitkommen?«
»Ja, natürlich!«, sagte Amalie schnell zu. »Nur, mich wundert … ich meine, bei Ihrer Abneigung gegen den König …«
Rebekka lachte. »Ha! König hin oder her, ich tanze gerne und will mich amüsieren. Ich lasse mir doch von diesem gekrönten Unteroffizier nicht auch noch den Spaß verderben, nur weil das Fest rein zufällig ihm gilt. Außerdem habe ich ein Ballkleid, das getragen werden will. Dabei fällt mir ein – verfügen Sie über passende Toilette für diesen Anlass?«
»Ich fürchte nicht. Dass ich Abendgarderobe benötigen würde, damit hatte ich bei meinen Reisevorbereitungen nun
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