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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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überhaupt nicht gerechnet.«
    »Daran wird es nicht scheitern«, versicherte die Direktorin. »Meine Schneiderin ist eine Expertin für dringende Fälle. Und bei Ihrer Statur dürfte es ein Kinderspiel sein, etwas Passendes zu finden. Kommen Sie, wir gehen gleich zu ihr.«
    Die Lehrerinnen machten sich auf, den Prinzenplatz auf der Belle-Alliance-Allee zu verlassen. Als sie das Portal des Regierungspräsidiums passierten und an der nach wie vor exerzierenden Jägerkompanie vorübergingen, warf der junge Leutnant Amalie einen verwegenen Seitenblick und ein schneidiges Lächeln zu. Dass sie jedoch zurücklächelte, statt eilig die Augen abzuwenden, brachte ihn so sehr aus dem Konzept, dass er stotternd mit seinen Befehlen durcheinandergeriet und die bis dahin uhrwerksartig präzise ausgeführten Bewegungen seiner Soldaten sich sekundenschnell in eine Choreographie des Chaos verwandelten.
    Der Leutnant lief vor Scham über diese Blamage rot an und bemühte sich hektisch, wieder Ordnung in seinen Teil der Welt zu bringen. Dass Amalie, die ungerührt weitergegangen war, hinter vorgehaltener Hand grinste, sah er nicht mehr.

23. Oktober
    Krüger stand am weit geöffneten Fenster, die Hände auf das Fensterbrett gestützt. Er hatte seine reichlich vorhandenen Finanzmittel genutzt, um ein angemessenes Haus in Schönhöhe am Nordufer der Friedrichsburger Bucht zu mieten, abseits von allem störenden Lärm. Hier konnte er in Ruhe seine Pläne durchdenken und dennoch über die Grenadierbrücke jederzeit rasch den Cooper-Fluss überqueren und alle wichtigen Orte der Oberstadt erreichen. Keine andere Unterkunft hätte für seine Zwecke besser geeignet sein können.
    Beim Blick aus dem Fenster bot sich ein Panorama, das eines Gemäldes würdig gewesen wäre. Zur Rechten, wo sich die beiden Ströme vereinten, schimmerten die Bauten Friedrichsburg weiß im milden Licht der herbstlichen Mittagssonne. Inmitten der weiten Wasserfläche, die durch einen sanften Wind gekräuselt wurde, ragte einer von Menschenhand geschaffenen Insel gleich stolz die Bastion Derfflinger aus den Wellen, eine aus leuchtend roten Ziegeln erbaute Küstenfestung, deren Kanonen die Stadt vor jedem von See kommenden Eindringling schützten. Weit zur Linken schließlich verengten zwei Landzungen die Bucht zu einem schmalen Tor, auf dessen anderer Seite sich bereits die endlosen Wassermassen des Atlantiks erstreckten.
    Doch für diese Aussicht, die zweifellos als Rechtfertigung für einen erklecklichen Anteil des Mietpreises diente, hatte Krüger kein Auge. Er stand am Fenster, um bei hellem Tageslicht zu lesen. Natürlich hatte er sich schon vor Antritt seiner Reise eingehend vorbereitet, wie es seine feste Angewohnheit war. Aber seiner Erfahrung nach schadete es nie, sich alle maßgeblichen Einzelheiten noch einmal zu verinnerlichen, ehe man zur Tat schritt.
    Er wendete die Seite des Buches, das vor ihm auf dem Fensterbrett lag. Die Rangliste der preußischen Armee hatte ihm schon öfters gute Dienste geleistet. Er fand es sehr leichtsinnig, die Namen, Dienstgrade und Einheiten sämtlicher Offiziere vom Staat im Druck zu veröffentlichen, so dass jeder Dahergelaufene so wichtige Informationen einfach beim Buchhändler erwerben konnte. Nach seinem Empfinden gingen diese Dinge keinen Außenstehenden etwas an. Doch Krüger beklagte sich nicht, erleichterte ihm diese bemerkenswerte Unbesonnenheit doch seine Arbeit ganz erheblich.
    Er fuhr mit dem Zeigefinger die Spalten mit den Namen der Offiziere im karolinschen Armeekorps entlang und überging keinen einzigen Eintrag. In seinem Beruf gab es kein nutzloses Wissen, sondern nur ruhendes, das auf eine künftige Verwendung wartete. Suchen musste er vorerst aber nichts. Zwar wusste er noch nicht, wie er vorgehen würde, da er erst die Gegebenheiten erkunden musste. Doch wo er den Hebel anzusetzen hatte, stand für ihn bereits fest.
    Sein Finger hielt in der Mitte der Seite inne. Er las den Namen, der ihm inzwischen schon wohlbekannt war, ein weiteres Mal:
Maj. Wilhelm Friedrich Albrecht v. Pfeyfer.

24. Oktober
    Wie an jedem normalen Morgen betrat Major Pfeyfer um Punkt acht Uhr mit dem Glockenschlag der nahen Petrikirche sein Dienstzimmer im Korpskommando am Prinzenplatz. An diesem Tag war es ihm schwergefallen, das Bett zu verlassen, nachdem er erst spät am vorherigen Abend an Bord der
Libelle
aus New York zurückgekehrt war. Aber letztlich hatte die Disziplin über den Wunsch nach einer zusätzlichen Stunde Schlaf

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