Die Fahrt des Leviathan
noch wenige Schritte trennten sie von der Brückenmitte.
Einige Fuß. Eine Handbreit.
»Feuer!«, schrie Pfeyfer aus Leibeskräften.
Wie ein Mann sprangen die Jäger hinter ihren Befestigungen auf und ließen eine geschlossene Salve aus hundert Gewehren donnern. Beide Fahnenträger sanken mitsamt ihren Flaggen zu Boden. Dutzende Soldaten in den vordersten Reihen der Kolonne fielen getroffen nieder. Panik brach aus. Innerhalb von Sekunden zerfiel alle Ordnung, die Männer drängten zurück, rissen andere nieder und trampelten über die Gestürzten hinweg. Immer weitere Schüsse peitschten durch das Brüllen und die Hilferufe.
Das unerwartet über sie hereingebrochene Verderben hatte die Südstaatler ins Mark getroffen. In heillosem Chaos flohen sie von der Brücke. Zurück blieben nur Tote und Verwundete, viele von ihnen nicht einmal von Kugeln getroffen.
Pfeyfer erteilte den Befehl zum Einstellen des Feuers, damit keine Munition nutzlos verschwendet wurde. Der Hinterhalt war gelungen. Aber der Kampf begann erst.
Die flüchtenden Südstaatler rannten um ihr Leben und bemerkten zunächst nicht einmal, dass keine Schüsse mehr fielen. Erst als sie den Zug wieder erreichten, kamen die ersten von ihnen zur Besinnung. Es gelang den Offizieren unter großen Anstrengungen, der Flucht Einhalt zu gebieten und das angeschlagene Regiment wieder zu sammeln.
General Sibley hockte auf dem Trittbrett eines Waggons, hielt sich das blutende Ohr, das eine Kugel ihm um ein Haar weggerissen hätte, und knurrte mit zusammengebissenen Zähnen: »Verfluchte Scheiße! Ein Hinterhalt. Der Grenzposten muss noch eine Meldung abgesetzt haben. Nur daher konnten die wissen, dass wir kommen.«
»Fuckin’ sons of a bitch!«, schäumte Beaulieu , der bis auf blaue Flecken unversehrt davongekommen war. »Wissen die Krautfresser nicht, dass wir ihren verdammten Prinzen haben?«
»Offenbar nicht. Sie haben wohl keine Ahnung von dem, was in Charleston passiert. Sonst würden sie keinen Widerstand wagen«, folgerte Sibley. Blut tropfte zwischen seinen Fingern hindurch auf die graue Uniform. Aus der Innentasche des Rocks zog er eine flache Silberflasche hervor, öffnete mit zittrigen Fingern den Schraubverschluss und nahm einen großen Schluck. Danach erst fuhr er fort: »Wie dem auch sei, hier geht es nicht weiter. Wir müssen uns zurückziehen.«
Aus flammend geweiteten Augen starrte Beaulieu ihn an. »General! Sie liefern damit unsere Freunde aus!«
Sibley trank einen weiteren Schluck und wischte sich den Mund mit dem blutverschmierten Handrücken ab. »Colonel, uns bleibt keine Wahl. Die sitzen gut verschanzt am anderen Ufer, und wer weiß, wie viele es sind. Auf der elenden Brücke könnte das gesamte Regiment verbluten, ohne dass wir etwas erreichen.«
»Das ist Ihr Grund? Jesus, da hat sich vielleicht nur ein versprengter Haufen eingegraben! Den fegen wir beiseite, wenn wir entschlossen angreifen, zum Teufel!«, wetterte Beaulieu erbost. Er forderte einem vorbeikommenden Lieutenant das Fernglas ab und nahm das Nordufer ins Visier.
Ganz deutlich konnte er die Köpfe der Feinde ausmachen. An den schwarzen Tschakos identifizierte er sie als preußische Jäger. Demnach handelte es sich um kein ad hoc formiertes Aufgebot von Bauern der Umgebung. Im Schutz ihrer Stellungen betrachteten sie ihr Werk und schienen Beaulieu aus zulachen. Ja, sie lachten, er sah es genau. Er sah ihre viehisch verzerrten Gesichter, die dunklen Affengesichter, und wurde von dem brennenden Verlangen gepackt, ihnen allen eigenhändig den Hals durchzuschneiden.
Plötzlich erkannte er Pfeyfer. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Dort drüben hockte der Neger, der ihn schon einmal zu demütigen gewagt hatte. Er verfolgte ihn. Er verhöhnte ihn!
Beaulieu schleuderte das Fernglas fort. »Lassen Sie angreifen, gottverdammt! Jetzt, auf der Stelle!«, fuhr er den General an.
»Sie vergessen sich!«, wies Sibley ihn scharf zurecht und steckte nach einem letzten Schluck die Flasche wieder ein. »Damit Sie es endlich begreifen, ein Angriff findet nur über meine Leiche statt.«
Blitzartig zog Beaulieu seinen Revolver. Aus nächster Nähe schoss er drei Kugeln in Sibleys Brust. Mit ungläubiger Miene stand der General für die Dauer eines Wimpernschlags wie zu Stein erstarrt. Dann brach er ohne einen Laut zusammen.
Beaulieu steckte die Waffe zurück in den Halfter. Der Leiche zu seinen Füßen schenkte er keine weitere Beachtung, sondern wandte sich an die umstehenden
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