Die Fahrt des Leviathan
ausgerollt worden; eine zeigte den südlichen Teil der Provinz Karolina, die andere Friedrichsburg nebst Umland. Anhand dieser Karten würde er die bereits durch Ordonnanzen herbeibefohlenen Offiziere instruieren, sobald sie eintrafen. Den Zug abzufangen und das armselige Häuflein Konföderierter auf offenem Feld zu vernichten, stellte natürlich keine ernst zu nehmende militärische Herausforderung dar. Doch Moltke wollte den größtmöglichen Nutzen aus dieser einmaligen Gelegenheit ziehen. Die Effizienz preußischer Zündnadelgewehre und herkömmlicher Hinterlader unter Gefechtsbedingungen zu vergleichen, lag ihm sehr am Herzen.
Er blickte auf die Kaminuhr: kurz nach halb zehn; die verbleibenden zweieinhalb Stunden sollten nach seinem Dafürhalten bei Weitem ausreichend sein, alle notwendigen Dispositionen für das Gefecht zu treffen.
Moltke nahm einen halb aufgebrauchten Radiergummi und platzierte ihn auf der Karte Karolinas dort, wo sich seinen Berechnungen nach der Zug mit den Südstaatlern jetzt gerade befand. Die Brücke über den Combahi-Fluss wurde von dem Gummistück vollständig verdeckt.
* * *
Erst war da nur ein leises Grollen in der Ferne. Leicht hätte man es überhören können. Doch es wurde lauter, schwoll zu einem rasch herannahenden Rumpeln an. Ganz deutlich trat das atemlose Stampfen einer Lokomotive hervor, vermengt mit dem Rattern Dutzender Räder. Der Zug kam.
»Köpfe unten halten!«, befahl Pfeyfer den hinter den Holzstapeln kauernden Jägern und schärfte ihnen nochmals ein: »Erst auf Signal schießen. Feuer sofort einstellen, wenn sich der Feind von der Brücke zurückgezogen hat!«
Nur zu genau wusste er, wie leicht Soldaten im Gefecht in eine Art Rausch verfielen und in rascher Folge Schuss um Schuss abfeuerten, ohne dass sie ein Halten kannten. Bei jedem Manöver hatte er dieses Phänomen erlebt; in einem wirklichen Kampf, wenn ungleich stärkere Kräfte auf die Seelen der Männer wirkten, mochte der Effekt noch viel extremer zutage treten.
»Nur gezielt schießen!«, rief er so laut, dass ihm der Rachen schmerzte. »Ich will für jeden Schuss da drüben einen fallen sehen! Ist das klar?«
Ein hundertfaches
Jawohl!
schallte zurück. Der Major gab sich dennoch keinen Illusionen hin. Ihm war vollauf bewusst, dass die Soldaten seine drastische Forderung unmöglich erfüllen konnten. Aber darauf kam es auch gar nicht an.
Pfeyfer spähte durch eine Lücke zwischen den Holzbohlen. Das Geräusch war jetzt ganz nah. Jede Sekunde musste der Zug erscheinen, ganz hinten, wo die Schienen schon fast in einem Punkt zusammenliefen und sich in der Landschaft verloren.
Und es geschah. Die dampfschnaubende Lokomotive wurde sichtbar. Pfeyfer zog durch die Nase tief Luft ein. Es wurde ernst.
Mit Volldampf rollte der Zug nordwärts. Fünfzehn geschlossene Güterwagen hingen hinter der moosgrün lackierten Lokomotive der Karolinischen Südbahn, jeder laut der seitlichen Aufschriften zugelassen für Militärtransporte von sechzig Mann oder acht Pferden. Die 1500 Soldaten der 62nd Georgia Volunteer Infantry mussten die Fahrt in drangvoller Enge ertragen. Nur einem von ihnen blieb es erspart, mit seinen Kameraden gemeinsam eingepfercht zu sein. Er stand auf dem Kohlentender und wachte mit schussbereitem Revolver darüber, dass Lokführer und Heizer, beide Mulatten, keine Sabotageversuche wagten. Gelegentlich warf er einen Blick auf die Strecke, doch bot sich seinem Auge niemals viel anderes als Schienenstrang, Chaussee und vorüberfliegende Telegraphenmasten. Auch jetzt gab es nichts Bemerkenswertes zu sehen. Gerade passierte der Zug eine Abzweigung und näherte sich einer Brücke, was eine kleine Abwechslung von der sonstigen Eintönigkeit darstellte. Mehr aber auch nicht.
»Wir müssen vor der Brücke die Geschwindigkeit drosseln. Das ist Vorschrift«, gab der Lokführer zu bedenken.
»Ich scheiße auf deine Vorschriften!«, brüllte der Südstaatler gegen den Fahrtlärm an und machte mit dem Colt eine ungeduldige Geste. »Kein Stück langsamer, kapiert?«
Der Lokführer fügte sich widerwillig und bedeutete dem Heizer, mehr Kohle nachzulegen.
Die Dampfpfeife aber betätigte er gemäß den Bestimmungen, um nicht gänzlich zum Ordnungsbrecher hinabzusinken.
Unter grellen Pfiffen donnerte der Zug in voller Fahrt auf die Brücke zu. Und da passierte es. Die Lokomotive sprang aus den Schienen, die Räder pflügten unter gewaltigem Poltern und Knirschen durch den Schotter und ließen
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