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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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E. Lee blickte sorgenvoll hinaus in die Nacht. Der Herbstregen prasselte schwer auf das Dach der hölzernen Veranda; kalte Windstöße trieben immer wieder einzelne Tropfen vor sich her und hinterließen dunkle Sprenkel von Feuchtigkeit auf dem hellgrauen Stoff seines Uniformrocks.
    Lee war froh, in diesem beschlagnahmten Farmhaus untergekommen zu sein. Aber jedes Mal, wenn er daran dachte, dass im oberen Stockwerk ein weiches Bett in einem trockenen Zimmer für ihn bereitstand, wurde er sich schmerzlich der Tatsache bewusst, dass seine Soldaten diese Nacht einmal mehr im Freien verbringen mussten. In vielfach geflickten Zelten, notdürftig improvisierten Unterständen aus Ästen und Moos oder gar auf dem nackten, aufgeweichten Boden. Auch wenn er sich gewiss sein konnte, dass ihm keiner der Männer sein Bett missgönnte, schämte er sich.
    Hinter Lee stand die Ordonnanz des Adjutant Generals, ein junger Lieutenant, und trug beim matten Schein einer Petroleumlampe die Zahlen des Abendappells vor, Korps um Korps, Regiment um Regiment.
    »Genug davon«, unterbrach Lee ihn endlich. »Haben Sie die Güte, mir einfach nur die gegenwärtige Gesamtstärke der Nordvirginia-Armee zu nennen, Lieutenant.«
    »Jawohl, Sir. Die Armee umfasst 40 208 Mann, davon 35 776 ganz oder bedingt kampftauglich.«
    »40 000«, wiederholte Lee bedrückt. Mit über 55 000 hatte er Anfang September den Potomac überschritten, um den Krieg nach Norden zu tragen und Lincoln zu Friedensverhandlungen zu nötigen. Seine Soldaten mochten zerlumpt gewesen sein, viele von ihnen gar barfuß ohne Stiefel, doch sie waren tapfer und siegesgewiss vorwärtsmarschiert. Bis die Streitmacht der Union sie bei Antietam blutig zur Umkehr gezwungen hatte. Nun schleppte sich die dezimierte, von Hunger und Krankheit geplagte Armee schon seit Wochen südwärts, wich zurück, um wenigstens in einer selbstgewählten Stellung den Gegner erwarten zu können, falls der ewig zaudernde Unionsfeldherr McClellan sich irgendwann doch überwinden sollte, seine gewaltige Potomac-Armee über den Fluss zu führen und den Konföderierten nachzusetzen.
    Sollte er kommen, können wir ihn zurückschlagen. Nur wird mehr als eine einzige gewonnene Schlacht nötig sein, um diese Truppe wieder aufzurichten,
erkannte Lee, während er daran dachte, wie demoralisiert seine erschöpften Soldaten waren. Und er musste sie wieder aufrichten, ihre Moral und Kampfkraft wieder herstellen. Denn Lee beabsichtigte, nochmals in den Norden vorzudringen. Es gab keinen anderen Weg, die Union zum Einlenken zu bewegen. Nie würde die Konföderation sich behaupten können, wenn sie allein auf die Verteidigung ihres Territoriums setzte. Langsam, aber unerbittlich würde der an Menschen, Nachschub und Geld weitaus reichere Norden sie erdrücken. Es galt, den Krieg schnell zu einem Ende zu führen, ehe die Leiden unbeschreiblich wurden und noch mehr Ströme von Blut auf beiden Seiten flossen.
    »Es ist möglich«, beteuerte Lee sich selbst leise.
    »Verzeihung, Sir? Ich habe nicht recht verstanden«, fragte der Offizier nach.
    Der General machte eine vage Handbewegung. »Nichts, Lieutenant Jenkins. Gibt es Nachricht von Stuart?«
    »Bislang nicht, Sir. Ich werde Sie umgehend benachrichtigen, wenn er von seinem Erkundungsritt zurückkehrt oder Depeschen von ihm eintreffen.«
    »Danke, Lieutenant. Das wäre dann alles für heute. Sie können gehen, und meine Empfehlung an Colonel Chilton.«
    Der junge Offizier steckte seine Unterlagen zurück in die Hülle aus Wachstuch, salutierte und verließ die Veranda. Schon nach wenigen Schritten verschluckten ihn die Finsternis und der Vorhang aus Regen.
    Gedankenverloren schaute General Lee in die Dunkelheit und strich sich den vorzeitig ergrauten Vollbart. Er überlegte sehr intensiv, versuchte die Dinge von allen Seiten zu betrachten, alle Chancen und Risiken abzuwägen und sämtliche unverzichtbaren Voraussetzungen zu kalkulieren.
    »Es ist möglich«, sagte er nach einer Weile nochmals. Es hatte einfach möglich zu sein, weil es keine Alternative gab. Er musste, sobald es die Umstände und die Mittel erlaubten, erneut mit seiner Armee in den Norden vordringen. Dann würde er die Schlacht schlagen, die den Krieg entschied.
    Und das nächste Mal brauchen meine Männer nicht mit bloßen Füßen zu marschieren. Dafür werde ich sorgen,
schwor er sich.
    Lee atmete tief durch. Er nahm die Lampe vom Haken, drehte sich um und ging ins Haus. Es war schon spät, und er würde am

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