Die Fahrt des Leviathan
Plantagenbesitzer trotz des Ausfuhrverbots nach Karolina gebracht hatten. In Oranienburg hatten arbeitslose Webereiarbeiter Bäckereien geplündert , und in Borussia waren bei Ausschreitungen sogar zwei Menschen zu Tode gekommen. Dort hatten sich aufgebrachte Weiße zusammengerottet und Schwarze angegriffen. Schon seit geraumer Zeit verbreitete sich in der ganzen Provinz die Behauptung, karolinische Neger würden trotz der gegenwärtigen Misere im Lande Plantagensklaven in großer Zahl zur Flucht nach Preußen verhelfen. Und es hieß, die Schwarzen Karolinas würden diesen entflohenen Sklaven aus Verbundenheit mit ihren Rassebrüdern bevorzugt die ständig knapper werdenden Arbeitsstellen zuschanzen. Dass diese völlig haltlosen Gerüchte jetzt sogar Menschenleben gekostet hatten, zeigte Pfeyfer drastisch, welche gefährliche Macht selbst der absurdeste Gedanke erhalten konnte, wenn er sich erst einmal in den Köpfen festgesetzt hatte. Auf dem Boden der Not keimte etwas Böses in Karolina. Pfeyfer hatte gelernt, wie man im Gefecht ein feindliches Infanteriebataillon bekämpfte, einen Gegner der sichtbar war und Gestalt besaß. Doch wie bekämpfte man das Böse? Er fühlte sich seltsam hilflos.
Der Major rieb sich die hämmernden Schläfen. Sein Blick fiel auf den immer noch leeren Schreibtisch schräg gegenüber. Aus dem Nichts übermannten ihn Schuldgefühle. Er kam sich schäbig vor, als würde er seinen alten Freund im Stich lassen, weil er trotz aller Anstrengungen noch immer nichts gefunden hatte, was ihn auf die Spur des Mörders und seiner Komplizen bringen würde. Manchmal war ihm, als würde Heinze hinter ihm stehen und ihm mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln über die Schulter blicken. Dann rannen ihm eisige Schauder den Rücken hinab.
Übermorgen, so hatte man ihm angekündigt, würde sein neuer Stellvertreter sich zum Dienstantritt bei ihm melden. Nur widerwillig war Pfeyfer hinzunehmen bereit, dass sich wieder jemand hinter Heinzes Tisch niederließ. Diese Vorstellung erschien ihm einfach respektlos gegenüber dem Toten.
Es gab also mehr als genug, das Pfeyfer an diesem Tag bedrückte. Und nun stand auch noch seine Ordonnanz in Habachtstellung vor seinem Schreibtisch und hatte soeben die Meldung überbracht, dass ein Zivilist darum ersuchte, ihn sprechen zu dürfen.
»Meinethalben. Soll reinkommen«, brummte der Major und trank einen Schluck Wasser mit Natron, das er sich als bewährte Allzweckwaffe gegen einen schmerzenden Schädel angerührt hatte.
»Jawohl, Herr Major!«, bestätigte der Soldat, schlug die Hacken zusammen und verließ den Raum. Das scharfe Knallen der Stiefel stach unangenehm in Pfeyfers gereizte Trommelfelle. Misslaunig fragte er sich, wer ihn wohl behelligen mochte.
Seine Stimmung hob sich nicht, als gleich darauf ausgerechnet Alvin Healey eintrat und ihn mit einer merkwürdigen Mischung aus Aufgekratztheit und Zaudern begrüßte. Pfeyfer ließ sich jedoch nichts anmerken, hieß seinen Gast willkommen und bot ihm einen Stuhl an, ehe er sich dann mit aller Freundlichkeit nach dem Grund des Besuchs erkundigte.
»Ich komme zu Ihnen, um Sie wegen des Zwischenfalls am Bahnhof um Verzeihung zu bitten«, antwortete Healey, wobei er nervös die Finger ineinander verschlang. »Was dort geschah, ist mir höchst unangenehm. Sie sehen mich tief betroffen.«
Pfeyfer war angenehm überrascht. Dass ein weißer Südstaatler sich bemüßigt fühlte, sich für die Ausfälligkeiten eines Landsmanns gegenüber Schwarzen zu entschuldigen, erlebte er zum ersten Mal. Wohlwollend versicherte er Healey, dass der Vorfall durchaus nicht sein Verschulden gewesen sei und er sich deswegen auch keinerlei Vorwürfe zu machen brauche, denn schließlich sei ja nicht er es gewesen, der Benimm und Anstand vergessen hatte.
Healey wurde sichtlich gelöster, seine Nervosität ließ erkennbar nach. »Vielen Dank, Herr Major. Sie erlösen mich von einer schweren Last. Ich … ich möchte mich gerne auch bei der Dame entschuldigen, die bei diesem unglückseligen Vorkommnis beleidigt wurde. Sie kennen sie nicht zufälligerweise?«
Das soll wohl ein Witz sein?,
hätte Pfeyfer beinahe herausgeplatzt. Doch er unterdrückte diese nächstliegende Reaktion zugunsten einer angemessenen Antwort: »Aber gewiss doch. Es handelt sich um Fräulein Rebekka Heinrich, die Direktorin der Höheren Töchterschule. Sie sollten sie dort antreffen können.«
Healey dankte enthusiastisch. Seine Freude über die Auskunft war so
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