Die Fahrt des Leviathan
verbindende Kraft darstellen, ein alle Unterschiede überbrückendes Symbol der Zusammengehörigkeit. Für alle Preußen, Weiße und Schwarze, Protestanten und Katholiken, Deutsche und Polen. Nur müsste dazu die Einsicht gehören, dass wir nicht mehr im Mittelalter leben, sondern im neunzehnten Jahrhundert. Die Macht muss von den Menschen im Lande ausgehen, vertreten durch ihre gewählten Deputierten. Die herrschende Entmündigung, die Herrschaft der Junker und der vom König nach Belieben ernannten und entlassenen Minister gehört auf den Kehrichthaufen der Vergangenheit. Dann, aber auch nur dann, kann die Monarchie eine Daseinsberechtigung erlangen.«
Rebekka musste nach diesem Monolog Luft holen. Sie vermochte kaum zu fassen, dass sie all das tatsächlich gesagt hatte.
»Und wenn die Monarchie sich nicht ändert?«, wollte der Kronprinz wissen.
»Dann wird der Strom der Geschichte sie fortspülen. Vielleicht morgen, vielleicht erst in Jahrzehnten. Aber es wird geschehen«, prophezeite Rebekka. Sie war nun völlig gelassen und verspürte keine Angst vor den Folgen ihrer Worte. Allem, was jetzt über sie kommen würde, sah sie gefasst entgegen.
Einen Moment lang schwieg der Kronprinz.
Dann nickte er und sagte mit respektvoller Anerkennung: »Ich habe mich nicht in Ihnen geirrt, Demoiselle Heinrich. Sie nötigen mir Bewunderung ab.«
Rebekka war sprachlos.
Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht mit einem Lob.
Der Prinz wartete kurz, ob die Schuldirektorin etwas erwidern wollte. Als sie vor Verwunderung stumm blieb, fuhr er fort: »In allem, was Sie sagten, pflichte ich Ihnen von ganzem Herzen bei. Sie sind eine außergewöhnliche Frau, an deren Denkweise und Einsichten sich so mancher in diesem Lande ein Beispiel nehmen sollte.«
»Ich danke Eurer Hoheit«, krächzte Rebekka mit belegter Stimme und musste sich mehrmals leicht räuspern. Als sie in der Lage war weiterzusprechen, konnte sie sich eine auf ihren ganz persönlichen Quälgeist abgezielte Spitze nicht verkneifen: »Major Pfeyfer dürfte Ihre Einschätzung jedoch nicht teilen, befürchte ich.«
»Ach ja, der Major!« Der Kronprinz legte die Stirn in Falten. »Ein braver Mann, so viel ist gewiss. Aber ich glaube, er ist viel zu sehr Soldat und denkt, man könne einen Staat so organisieren wie eine Armee und dass das ganze Heil in der preußischen Dreieinigkeit von Befehl, Gehorsam und Pflichterfüllung liege. Er mag es noch nicht wahrhaben, doch diese Zeiten sind vorbei.«
»Mit Verlaub, Hoheit – Männer, die das nicht wahrhaben wollen, lenken die Geschicke des Staates«, wandte Rebekka ein.
»Ja, noch tun sie das«, meinte Kronprinz Friedrich. Für eine Sekunde verlor sich sein Blick in einer erdachten Ferne, bis er blinzelte, als wollte er damit einen unerwünschten Gedanken verscheuchen. »Wie dem auch sei, ich werde Sorge dafür tragen, dass Major Pfeyfer Ihnen künftig nicht mehr die freie Äußerung Ihrer Ansichten zu verleiden sucht. Nun jedoch, wenn Sie gestatten, zum eigentlichen Grund, weshalb ich Sie hergebeten habe. Ich möchte Sie ersuchen, mir etwas über Karolina zu erzählen.«
»Aber – wieso ich, Hoheit? Über die Lage in der Provinz können die hiesigen Beamten doch sicher zuverlässiger Auskunft geben.«
»Nein, diese Beamtenseelen würden strammstehen und Meldung machen. Aber etwas wirklich Erhellendes über die Zustände hier käme dabei nicht heraus, da sie nicht eigenständig denken«, meinte der Kronprinz abfällig. »Bei Ihnen ist das ganz anders. Sagen Sie mir ungeschönt, was ich wissen sollte. Ich frage mich etwa, ob wirklich Gefahr besteht, dass Karolina sich von Preußen lossagt.«
Rebekkas Antwort kam sofort und mit voller Überzeugung. »Nein, Hoheit, das glaube ich nicht. Einige radikale Demokraten träumen zwar schon lange von der Umwandlung der Provinz in einen amerikanischen Bundesstaat. Aber bei der großen Mehrheit findet diese Idee keinen Widerhall … noch nicht zumindest.«
»Ihre letzten Worte legen nahe, dass die Stimmung umschlagen könnte, wenn der Krieg andauert und die Not weiter anwächst. Wir sollten vielleicht hoffen, dass die Konföderierten Staaten bald siegen, damit wieder Baumwolle nach Karolina gelangt«, sinnierte der Kronprinz.
»Auf gar keinen Fall!«, widersprach Rebekka vehement und ohne Rücksicht darauf, wem sie gegenübersaß. »Mit dem Sieg der Rebellen wäre Karolina erst recht für Preußen verloren. Die Südstaaten können nicht dulden, dass hier die Lehre von der
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