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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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groß, dass Pfeyfer sich fragte, wie unglaublich drückend diesem Mann wohl das Bedürfnis, um Entschuldigung zu bitten, auf der Seele liegen musste.
    »Es war mir ein Vergnügen, Ihnen behilflich zu sein, Herr Healey. Gibt es darüber hinaus noch etwas, was ich für Sie tun kann?«, erkundigte sich der Major.
    »Oh, Sie haben schon viel mehr für mich getan, als ich erhofft hatte«, meinte der Amerikaner überschwänglich und erhob sich. Unter wiederholten Dankesbekundungen verabschiedete er sich und ging.
    Befremdet kratzte Pfeyfer sich am Kinn. So recht wurde er aus Healey nicht schlau. Irgendwie ein nicht unsympathischer Zeitgenosse, sicher. Aber auch seltsam.
    Er trank noch einen Schluck Natronlösung und nahm sich dann wieder seine Akten vor. Die Arbeit würde sich nicht von alleine erledigen.
     
    Mit beschwingtem Schritt trat Healey aus dem Portal des Korpskommandos ins Freie und pfiff dabei vor sich hin. Die irritierten Blicke des Wachpostens kümmerten ihn nicht, denn er war guter Laune. Als Pfeyfer Rebekka Heinrich erwähnt hatte, war nämlich schlagartig der Schleier von seiner Erinnerung gezogen worden. Nun entsann er sich wieder, dass Fräulein von Rheine ja Lehrerin an derselben Schule war. Er würde sie also aller Wahrscheinlichkeit nach dort antreffen.
    Es galt, seinen Besuch gut vorzubereiten. Dazu benötigte er einen großen, prachtvollen Blumenstrauß. Und hatte sein Vorgänger ihm nicht ein Opernabonnement hinterlassen? Er würde eine zusätzliche Karte kaufen und Amalie von Rheine in die Oper einladen. Das würde sie bestimmt bewegen, seinen Worten Ohr und Herz zu öffnen.
    Healey beschleunigte seinen Gang und lief quer über den Prinzenplatz. Er hatte noch viel zu erledigen.

Washington, District of Columbia
    Zwei Tage lang war kalter Nieselregen niedergegangen und hatte die unfertige Kuppel des Kapitols in einen trübgrauen Schleier gehüllt. Nun hatten die Wolken sich verzogen. Die tiefstehende Sonne tauchte die Stadt in ein dunstiges Licht.
    Abraham Lincoln hatte gehofft, dass sich etwas von der Atmosphäre dieses freundlichen Herbsttages auf Ambrose Burnside übertragen würde, und die Unterredung aus der Enge des Arbeitszimmers in den Garten des Weißen Hauses verlegt. Doch auch blauer Himmel und Sonnenschein vermochten Burnsides Pessimismus nicht zu mindern, wie Lincoln erkennen musste.
    Die beiden Männer schritten nebeneinander den in weitem Bogen verlaufenden Kiesweg entlang und wichen dabei gelegentlich den vielen Pfützen aus, die der Regen hinterlassen hatte.
    »Ich kann den Oberbefehl über die Potomac-Armee nicht übernehmen, Mr. President«, beharrte Burnside. »Sie boten mir den Posten vor einigen Monaten schon einmal an, und ich lehnte ab. Meine Haltung hat sich seither nicht geändert, da auch meine Fähigkeiten, über deren Grenzen ich mir wohl bewusst bin, sich nicht geändert haben.«
    »Es soll vorkommen, dass Menschen das Ausmaß ihrer Talente ganz erheblich unterschätzen«, gab Lincoln zu bedenken und gab vor, sich zu räuspern. In Wahrheit musste er trotz der sehr ernsten Unterredung ein Lachen unterdrücken, weil ihm aufgefallen war, wie komisch doch Burnsides gewaltiger Backenbart aussah. Lincoln war sogar zu Ohren gekommen, dass der zu
Sideburns
verdrehte Name des Generals mittlerweile schon zu einer gängigen Bezeichnung für buschige Koteletten geworden war.
    Burnside schüttelte den Kopf. »Welche bislang verborgenen Talente mir der Allmächtige auch geschenkt haben mag – die Führung einer großen Armee gehört mit Gewissheit nicht dazu, Mr. President.«
    »Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel«, widersprach Lincoln. »Sie haben an der Küste North Carolinas eine Reihe bemerkenswerter Siege herbeigeführt.«
    »Mit einer kleinen, überschaubaren Streitmacht. Doch die hundertzwanzigtausend Mann der Potomac-Armee … bei Jupiter, ich wüsste nicht einmal, wie ich diese gewaltige Masse lenken soll! Nein, Mr. President, das traue ich mir nicht zu.«
    Lincoln blieb stehen. Er wies auf ein graues Eichhörnchen, das zwischen den schon recht kahlen Ästen eines Baumes herumhüpfte. »Sehen Sie den kleinen Burschen da?«, fragte er. »Wie weit würde er wohl kommen, wenn er anfinge, vor jedem Sprung zu zweifeln, ob er überhaupt springen kann?«
    Burnside ließ sich Lincolns Worte kurz durch den Kopf gehen, erwiderte dann aber: »Ihre Vorliebe für Vergleiche in allen Ehren, Mr. President. Doch hier liegen die Dinge anders. Dem zaudernden Eichhörnchen nimmt

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