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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Musik rauschte auf und holte Healey urplötzlich aus dem gestaltlosen Nichts seiner Gedanken. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Er wollte nicht zuhören, sträubte sich, versuchte sich den Klängen zu entziehen. Doch etwas zwang ihn.
    Die dunkelhäutige Sopranistin, die mit dem vor funkelnden Steinen gleißenden schwarzen Kostüm der Königin der Nacht angetan in der Mitte der Bühne stand, erhob die Stimme zu einer unfassbaren Kaskade von Tönen. Ihre Stimme schwang sich himmelstürmend empor:
So bist du meine Tochter nimmermehr …
    Und mit einem Mal verstand Healey. Die Erkenntnis traf ihn so unvermittelt und hart wie ein Faustschlag. Er begriff, dass er verloren hatte.
    Mozart mochte tot sein, sein von Syphilis zerfressener Körper in einem Massengrab verwesen und den Würmern als Fraß dienen. Aber seine Musik ließ ihn fortleben. Bis zu dem fernen Tag, an dem Gott der Welt überdrüssig würde und das Ende der Zeiten kommen ließ, würden die Klänge, die seinem Kopf entsprungen waren, immer weiter erklingen. Und da Healey bezweifelte, dass es einen Gott gab, würde Mozart bis in alle Ewigkeit weiterleben.
    Er selbst aber war dazu verdammt, nach dem Ende seiner armseligen Existenz auf Erden spurlos zu vergehen. Wenn Alvin H. Healey starb, dann starb er endgültig. Er hinterließ keine Musik, keine Kunstwerke, keine Großtaten, an die man sich erinnern würde. Das Schicksal hatte unbarmherzig entschieden, dass nichts von ihm zurückbleiben sollte. Darum war der Sitz zu seiner Rechten leer.
    Healey konnte nicht an sich halten. Er verbarg das Gesicht in den Händen und brach schluchzend in Tränen aus.
    Die links von ihm sitzende Frau machte Anstalten, sich bei ihm über diese Beeinträchtigung der Arie zu beklagen und um Ruhe zu bitten. Doch dann unterließ sie es, ihn anzusprechen. Sie empfand es als zu rücksichtslos, jemanden zu stören, der gerade so tief berührt war von Mozarts unsterblicher Musik.

12. November
    Leutnant Levi verzog den Mund. Der Wein schmeckte so miserabel, dass er ihn nicht einmal hinunterschlucken mochte. Aber ewig auf der Zunge behalten konnte er die essigartige Flüssigkeit auch nicht. So überwand er sich und schluckte.
    Angeekelt stellte er das Glas vor sich auf den Tisch, um es nicht wieder anzurühren. Er nahm fest an, dass an diesem Tag Fräulein Straube die Flaschen aus dem Keller holte. Inzwischen war ihm nämlich aufgefallen, dass er jedes Mal dann minderwertigen Wein vorgesetzt bekam, wenn die ältliche Schwester des Wirtes vertretungsweise das Offizierskasino leitete. Und ihm war auch nicht entgangen, dass er stets der Einzige war, den es traf.
    So naiv, darin bloßen Zufall zu sehen, war Levi nicht. Nicht mehr.
    Verärgert blätterte er in der Zeitung, um sich auf diese Weise abzulenken, wenn er sich schon mit niemandem unterhalten konnte. Nicht, dass er etwas gegen Gesellschaft einzuwenden gehabt hätte. Doch die übrigen Offiziere der Garnison legten keinen Wert auf seine Anwesenheit. So saß er also allein an einem der durch dunkle, hohe Holzwände voneinander abgeteilten Tische.
    Solange er noch Unteroffizier gewesen war, hatte er nie Ausgrenzung erfahren. Aber seitdem er, wohl eher aufgrund eines Irrtums, das Offizierspatent erhalten hatte, wurde er geschnitten. Die Offiziere ließen ihn durch kalte Zurückweisung spüren, dass er in ihren Augen ein unerwünschter Eindringling war. Levi gab vor, von dieser Behandlung nicht berührt zu werden, doch sich selbst konnte er nichts vormachen. Er kam sich vor wie ein Leprakranker.
    Missmutig versuchte er, sich in den Artikel über General Grants jüngste Operationen in Tennessee zu vertiefen, doch selbst das blieb ihm verwehrt. Die Unterhaltung dreier Männer am Nebentisch war so lebhaft, dass er sich keine zehn Sekunden auf den Zeitungsbericht konzentrieren konnte. Durch die dünne Trennwand drang jedes Wort in ungedämpfter Lautstärke an seine Ohren.
    Den Eigentümer der auftrumpfend dröhnenden Stimme hatte er schon bei der ersten Silbe als Leutnant Printz identifiziert, das knochige Näseln konnte nur zu Leutnant de Freusy gehören und Leutnant Marwicz dürfte wohl der Dritte im Bunde sein, da niemand sonst einen dermaßen besserwisserischen Ton anschlug. Sie gaben allerlei belanglose Dinge von sich, und da Levi sich ihr wichtigtuerisches Gehabe bildlich vorstellen konnte, war er ganz froh, sie nicht auch noch sehen zu müssen.
    Entnervt wegen des inhaltslosen Geredes unternahm Levi einen erneuten Anlauf, sich ganz dem

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