Die Fahrt des Leviathan
den Ozean in ihre Hände gelangt war.
»Zu sagen, dass er nervös war, ist in etwa so, als würde man den Chimborasso als stattliche Anhöhe bezeichnen«, meinte Rebekka. Sie hielt kurz inne, markierte mit zwei schwungvollen Strichen eine Stelle in ihren Unterlagen und fuhr dann fort: »Vielmehr war er vollkommen aufgelöst. Die Sache muss ihm ganz grauenvoll zugesetzt haben. Ich denke, es war ihm ein ungemein dringendes Bedürfnis, mich für das Verhalten seines Gastes um Verzeihung zu bitten. Jedenfalls erschien er mir völlig am Boden zerstört. Ich hoffe, ich konnte den Ärmsten beruhigen.«
Sie überflog den letzten Absatz und runzelte unschlüssig die Stirn. »Was meinen Sie, Carmen? Sollte ich jene, die eine Hinwendung Karolinas zu den Konföderierten Staaten befürworten, als
verantwortungslos
oder doch lieber als
unheilbringend
bezeichnen?«
»Ich meine, Sie sollten überhaupt nicht bei dieser Versammlung sprechen«, antwortete die Oberlehrerin besorgt. »Wer weiß, welche Reaktionen Ihnen dort entgegenschlagen. Die allgemeine Stimmung ist angespannt wie nie zuvor und Sie platzieren sich mit Ihren Ansichten auf gefährliche Weise zwischen allen Stühlen.«
Die Direktorin zeigte sich für diese Warnung nicht empfänglich und tat sie leichtherzig ab: »Ich habe ja auch nicht vor, eine Beliebtheitskonkurrenz zu gewinnen, sondern den Leuten die Augen zu öffnen. Den erzkonservativen Negern, die in Kadavergehorsam zu Krone und Staat verharren, ebenso wie den radikalen liberalen Weißen, die sich am liebsten der nächstgelegenen Republik in die Arme werfen würden, und sei es die Konföderation. Da darf ich Widerspruch nicht fürchten.«
»Gebe Gott, dass es nur Widerspruch sein wird«, sagte Amalie beunruhigt. »Georg erzählte mir von Unruhen in einigen Städten. Es kam zu Gewalttaten. Was, wenn jemand die Hand gegen Sie erhebt?«
Diese Vorstellung erschien Rebekka so abwegig, dass sie unwillkürlich schmunzeln musste. »Aber, aber! Dies ist doch keine rohe, unzivilisierte Grenzlandsiedlung irgendwo im amerikanischen
Far-West,
wo es als normal gilt, Meinungsverschiedenheiten mit Colts und Bowiemessern zu klären. Demnächst werden Sie mich noch vor drohenden Indianerüberfällen auf dem Weg zum Postamt warnen.«
Sie blickte in ihr Manuskript und setzte eine kurze Notiz an den Rand.
»Ich werde
blauäugig
sagen. Das verleiht der Aussage eine schöne Nuance.«
»Hoffen wir, dass Ihre Zuhörer diese Nuance ebenso empfinden«, seufzte Carmen. »Ganz nebenbei, konnten Sie inzwischen eine hinreichend große Vase für diesen kolossalen Blumenstrauß auftreiben?«
»Noch nicht«, bedauerte die Direktorin, wobei sie die eng beschriebenen Blätter in einen Pappdeckel legte. »Aber ich habe den Blecheimer mit blauem Seidenpapier umhüllt. Jetzt macht er sich im Salon recht akzeptabel. Wissen Sie, ich mag Herrn Healey. Sein Auftreten ist vielleicht ein wenig absonderlich, aber das schadet nicht. Wenn ich demnächst die kleine Feierlichkeit zum Jahrestag meines Lehrerinnenexamens ausrichte, lade ich ihn ein.«
»Eine gute Idee, Rebekka. Er wird hier in Friedrichsburg sicher nicht viele Menschen kennen. Da könnte ihm ein wenig Gesellschaft Freude bereiten«, unterstützte Amalie die Idee. Sie führte ihre Tasse zum Mund; doch gerade, als sie den Rand an die Lippen setzen wollte, fiel ein großer Regentropfen mit einem plumpen Klatschen hinein und ließ den Kaffee aufspritzen.
* * *
Kolowrath betrat den
Columbia-Saloon. Das von einem gebürtigen Bostoner geführte Etablissement ganz in amerikanischem Stil, komplett mit wandgroßem Spiegel hinter dem Schanktresen und protzigem Kristalllüster an der stucküberladenen hohen Decke, wurde vorzugsweise von den in Friedrichsburg ansässigen Amerikanern frequentiert. Doch auch Preußen kamen hierher, wenn ihnen statt nach Bier und Kümmelschnaps der Sinn einmal nach Whiskey oder Rye stand. Jedoch war Kolowrath nicht zum Vergnügen hier. Er suchte jemanden, von dem man ihm gesagt hatte, dass er sich hier aufhalten solle. Der Österreicher sah sich um und wurde sogleich fündig. Am Tresen stand mit gesenktem Kopf ein junger Mann in Leutnantsuniform, dem eine Strähne seines dunkelblonden Haars verirrt ins trübsinnige Gesicht hing. Er hielt ein halbvolles Whiskeyglas in der Hand, und zwei bereits geleerte standen vor ihm; doch wirkte er durchaus nicht angetrunken, sondern eher ernst und schweigsam. Leutnant David Levi war, so schien es Kolowrath, in genau der
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