Die Fahrt des Leviathan
Schritte sogar noch, als der große Ziegelbau der Töchterschule in Sicht kam. Er war mit seinem besten Anzug angetan, trug in der Hand einen gewaltigen Strauß prachtvoller Blumen und in der Tasche Billetts für die Aufführung der
Zauberflöte
an diesem Abend. Sein Herz klopfte ungestüm und seine Nerven flatterten; zugleich war er aber auch von unbändigem Enthusiasmus erfüllt. Er spürte einfach, dass dies sein Tag war. Der Tag, der seinem gesamten Leben eine völlig neue Richtung verleihen würde.
Er konnte es kaum noch erwarten, vor Fräulein von Rheine zu treten, ihr die Blumen zu überreichen und ihr seine innigste Zuneigung zu gestehen.
Die Aussicht auf diesen näher rückenden Moment beflügelte ihn.
Nur noch wenige Schritte lagen zwischen ihm und dem Portal der Schule. Ihm war, als würde er auf einer Welle des Glücks emporgetragen.
Da öffnete sich die Tür. Und Healey stürzte in die Tiefe.
Amalie von Rheine trat aus dem Gebäude, Arm in Arm mit einem Mann.
Die Lehrerin erkannte den Südstaatler auf der Stelle wieder. »Herr Healey! Wie schön, Sie wiederzusehen. Das ist aber eine Überraschung.«
»Ja. Das ist es«, sagte Healey wie vom Donner gerührt. Es fiel ihm schwer, zu denken oder zu sprechen. Das Gefühl, dass jemand mit einem kräftigen Schlag einen riesigen Eiszapfen in seine Seele getrieben hatte, blockierte sein Gehirn fast völlig. Dennoch brachte er es fertig, sich wenigstens so weit zusammenzureißen, dass er den Gruß erwidern konnte, wenn auch mit stockender Stimme.
Amalie stellte ihm den Mann an ihrer Seite als Doktor Georg Täubrich vor. Es blieb Healey nicht erspart, seine Hand schütteln zu müssen, obwohl er sie am liebsten Knochen für Knochen gebrochen hätte.
»Was führt Sie hierher?«, erkundigte sie sich und setzte mit einem bewundernden Blick auf die überwältigende Menge von Blumen hinzu: »Und dann noch mit einem so ungemein wundervollen Strauß?«
Healey, der die Existenz der Blumen vorübergehend vollkommen vergessen hatte, suchte rasch nach einer Begründung und behauptete stotternd: »Oh, ich – ich – die sind für Fräulein Heinrich. Wegen, nun, ich möchte sie um Entschuldigung bitten. Wegen des Zwischenfalls am Bahnhof.«
»Das ist aber sehr aufmerksam von Ihnen. Über einen so herrlichen Blumenstrauß freut sich jede Frau. Ich finde, Männer sollten Frauen viel häufiger Blumen zukommen lassen«, meinte Amalie und stieß Täubrich neckend mit dem Ellenbogen in die Seite.
Der Doktor zuckte ein wenig zusammen und stimmte schnell zu: »Aber gewiss. Sie haben ja so recht, Amalie.«
Es blieb der Lehrerin nicht verborgen, dass Healey um Fassung ringen musste. Doch das führte sie auf seine Verunsicherung angesichts der bevorstehenden Begegnung mit Rebekka zurück. »Gehen Sie nur unbesorgt hinein. Und keine Angst, meine Direktorin frisst niemanden«, ermunterte Amalie ihn und fügte augenzwinkernd hinzu: »Sie beißt nur gelegentlich.«
Healey nahm den Zuspruch mit einigen zusammengestammelten Beteuerungen des Dankes entgegen. Dann wünschten Amalie und Täubrich ihm Erfolg bei seinem Vorhaben, verabschiedeten sich und gingen fort.
Vor dem Schulportal blieb Healey allein zurück. Schleichend wich die Starre des Schocks einem Gefühl wütender Verzweiflung. Er wollte die Blumen zu Boden schleudern und zu Brei trampeln. Aber er widersetzte sich diesem Drang, wenn auch mit Mühe. Er hatte Fräulein von Rheine gegenüber gesagt, er wolle sich bei Rebekka Heinrich entschuldigen. Also musste er seine Ankündigung auch wahrmachen. Selbst wenn ihm danach zumute war, sich eine Kugel durch den Schädel zu jagen.
Er spürte seine Hand kaum, als er am Griff der Türglocke zog.
Amalie und Täubrich hatten das breite Trottoir der Friedrichstraße beinahe für sich alleine, während sie den in abendlicher Ruhe liegenden Boulevard entlangbummelten. Nur gelegentlich kamen ihnen andere Passanten entgegen oder rollte unter klapperndem Hufschlag eine Droschke vorüber. Doch ansonsten schien es, als sei die Stadt bereits in Schlummer versunken.
Die Schaufenster der zahlreichen Geschäfte übten eine beinahe magische Anziehungskraft auf Amalie aus und verführten sie dazu, immer wieder stehen zu bleiben. Die mit Straußenfedern bestückten Hüte in der Auslage einer Putzmacherei fesselten sie ebenso wie zehn Schritte weiter die Auswahl an feinsten Handschuhen.
»Schaufenster üben ganz eindeutig einen unwiderstehlichen Reiz auf Sie aus«, kommentierte Täubrich
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