Die Fahrt nach Feuerland
fressen und saufen, was ich wollte. Und nach zehn Tagen gab sie mir auch noch tausend Dollar! Tausend Dollar! Begreifen Sie, was das damals für mich, den gehetzten, hundearmen Deserteur, bedeutete? Überleben, Helena! Die wirkliche Freiheit! Denn das hatte ich begriffen: Wirklich frei ist nicht der Arme, sondern der, der in die volle Tasche greifen kann.«
Depallier nahm einen neuen langen Schluck Wein. »So war ich damals, meine Dame. Ein streunender Schakal. Erst langsam wurde ich wieder ein Mensch und erinnerte mich daran, daß mein Vater Jerome Depallier hieß. Die Herrenanzüge von Depallier: das sind wir. Die renommierte Anzugfabrik. Einen Depallier-Anzug erkennt man sofort am Schnitt, am Stoff, an der zeitlosen Eleganz.«
»Und der Sohn ist Legionär.«
»War! Jetzt ist er Einbrecher und Dieb. Aber auch das ist vorbei. Dank Ihrer Hilfe, Helena, werde ich nach diesen vielen Intermezzi als reicher und guter Mensch in die Zivilisation zurückkehren. Nicht in den Schoß der Familie Depallier; für die bin ich tot! Ich werde mich auch anders nennen. Wie? Das geht Sie nichts an! Ich will meine Ruhe haben in diesem neuen Leben. Ich bin durch Höllen gegangen, nun will ich ein kleines Eckchen im Paradies bewohnen.« Er beugte sich vor. »Wollen Sie nun meine Geschichte hören?«
»Ja!« sagte Helena und nickte. »Nach diesem Vorspiel, ja.«
»Bitte, Madame!« Depallier hielt den Becher hoch. »Noch einmal vollgießen!« Dann lehnte er sich zurück, betrachtete Lucrezia, die zurückgekehrt war und jetzt zu seinen Füßen lag, und winkte ihr mit dem Becher zu.
»Es begann mit einer Frau«, sagte er. »Womit sonst? Mit einer Frau, die so schön war wie unsere Lucrezia. Ich liebte sie und wurde, wie man so sagt – ich wurde wahnsinnig vor Liebe.«
Die Lebensbeichte eines Mannes soll man nicht unterbrechen. Es ist wie bei einem Nervenkranken, auch hier gilt als oberstes medizinisches Gebot: Reden lassen. Zuhören. Geduld haben. Nur ab und zu nicken und nicht mit Worten eingreifen. Sagt man aber doch ein Wort, dann soll es aufmuntern, weitertreiben, seelische Schleusen öffnen, das Gefühl vermitteln, hier hört einer wirklich zu und fühlt mit. Nur eines sollte man nicht: Nach dem Warum fragen, nach einem Sinn suchen. Oder gar eine Barriere der Abwehr aufbauen durch Neugier oder Kritik. Ein Mensch, der seine Seele aufreißt, ist wie ein Verblutender, nur mit dem allerdings gewichtigen Unterschied, daß er nicht an diesem Ausbluten stirbt, sondern sich befreit und erleichtert fühlt, am Ende glücklich erschöpft, in einer seligen Leere. Denn das wollte er ja: Das Gift der Vergangenheit ausspucken, sich reinigen für einen neuen Anfang.
Maurice Depallier trank mit zurückgeworfenem Kopf seinen Plastikbecher Bordeaux leer und schwieg. Er machte den Eindruck, als sei er plötzlich im Schlaf erstarrt, nur das Sichheben und -senken der Brust bewies, daß er noch atmete. Lucrezia wollte etwas sagen, aber Helena winkte energisch ab. Sie starrte Maurice an, als sei dieses Stadium der Erstarrung die Vorstufe zu einer Explosion.
»Sie hieß Lilliane …«, sagte er plötzlich. Es kam so unvermittelt, daß Helena zusammenzuckte. »Ich sehe sie vor mir: Groß, schlank, mit hüftlangen hellblonden Haaren – nein, Haare wie gesponnenes Gold. Das klingt verdammt kitschig, aber sie waren so, man kann es nicht anders beschreiben. Es waren die schönsten Haare, die ich je gesehen habe; es war auch der schönste Körper, den man sich denken kann. Wo dieses Mädchen erschien, leuchtete die Sonne heller, funkelten die Sterne geheimnisvoller, wurde das Meer blauer, blühten Blumen unter ihren Füßen auf. Lilliane – sie war damals neunzehn Jahre jung. Ihr Vater arbeitete im Schlachthaus und karrte die Abfälle weg, die Eingeweide, die blutigen Felle, die abgehackten Hufe und Hörner. Er stank immer nach Blut. Ihre Mutter begann mit dreiundzwanzig Jahren zu trinken – warum, das weiß keiner. Vielleicht, weil ihr Mann immer nach Blut roch? Als Lilliane in mein Leben trat, war ihre Mutter bereits eine unheilbare Säuferin mit zerstörter Leber und angeknacksten Sehnerven.« Depallier rutschte noch weiter nach vorn auf der Sitzbank, so daß sein Kopf noch mehr nach hinten sank. Seine Mundwinkel zogen sich nach unten – war es ein dumpfes Lächeln oder der Ausdruck von Ekel?
Er schwieg, aber Helena hütete sich, etwas zu sagen. Stumm füllte sie den Becher mit Wein. Maurice mußte das leise Gluckern hören, aber er rührte sich
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