Die falsche Frau
welcher Marke sollen wir Ihrer Meinung nach suchen? Fiat,
weil sie früher schon mal einen Fiat hatte?«
»Judith würde ein deutsches Fabrikat wählen. Obere Mittelklasse,
vermute ich. Wohlhabende Menschen werden an den Grenzen seltener kontrolliert
als andere.«
Der Mercedes mit italienischem Kennzeichen war ein gut
gepflegtes, erst zwei Jahre altes E-Klasse-Modell, azuritblau. Seit zweieinhalb
Monaten stand er schon am Rand einer ruhigen WohnstraÃe in Leimen, einem
Städtchen südlich von Heidelberg und nur wenige Kilometer von der Brandruine
entfernt. Bereits zehn Minuten, nachdem Evalina Krauss die Suchmeldung an die
Reviere gegeben hatte, klingelte ihr Telefon. Gleich mehrere Streifenwagenbesatzungen
hatten sich den Wagen in den vergangenen Wochen unabhängig voneinander schon
einmal genauer angesehen. Er parkte jedoch nicht im Halteverbot, war ordentlich
zugelassen, verschlossen und tauchte auch nicht auf den Listen der als gestohlen
gemeldeten Fahrzeuge auf.
»Respekt«, sagte ich zu meiner Bürogenossin, als ich mit unangenehmem
Gefühl im Magen den Hörer auflegte.
»Respekt ist nicht notwendig«, erwiderte sie ruhig. »Ich weiÃ, wie
sie denkt, wie sie in bestimmten Situationen handeln würde. Es ist meine
Aufgabe, solche Dinge zu wissen.«
»Was machen Sie eigentlich abends? Haben Sie Freunde hier oder
Kollegen?«
Schon als ich die Worte aussprach, wusste ich nicht mehr, was mich
dazu veranlasst hatte. Vielleicht das Gefühl, etwas gutmachen zu müssen. Sie
ein wenig für mein bisheriges Misstrauen zu entschädigen.
»Arbeiten. Lesen. Fernsehen«, zählte sie auf. »Manchmal gehe ich
aus. Auf Judiths Spuren.« Sie nahm die Hände von der Tastatur, drehte sich auf
ihrem Stuhl in meine Richtung. »Ich weià inzwischen recht gut, wo Judith früher
ihre Abende verbracht hat. Zu Beginn ihres Studiums zum Beispiel hat sie in der
Plöck gewohnt, über einer kleinen Buchhandlung. Schräg gegenüber ist das
Essighaus â¦Â«
»Sie gehen in die früheren Stammkneipen Ihres ⦠Ihrer Zielperson?«
Um ein Haar hätte ich »Schützling« gesagt.
»Auch Terroristinnen sind Menschen«, entgegnete sie ungerührt. »Auch
Mörderinnen kennen Gefühle wie Heimweh und Wiedersehensfreude. Wenn Sie in
Heidelberg ist, dann ist die Chance nicht klein, dass sie den einen oder
anderen bekannten Ort aufsucht. In welcher Verkleidung auch immer.«
»Und Sie hoffen, Sie im Fall des Falles zu erkennen?«
»Ich weià nicht, ob ich sie erkennen würde. Ich habe aus Pakistan
immer noch keine besseren Fotos bekommen. Meine Mails werden nicht mehr
beantwortet. Vielleicht wurde meine Kontaktperson verhaftet, vielleicht ist
sein Internetzugang gesperrt.« Helena Guballa holte tief Luft und sah mir ins
Gesicht, als sie fortfuhr: »Halten Sie mich für verrückt, wenn Sie mögen. Eines
weià ich: Wenn sie eine ihrer alten Kneipen besucht, dann wird sie nicht in
Begleitung kommen. Sie wird einen Tisch für sich allein haben, einen Tisch, der
möglichst zwei Fluchtwege offenhält. Sie wird keinen Kontakt zu anderen suchen.
Vielleicht wird sie ein Buch mitbringen. Und möglicherweise wird dieses Buch
englischsprachig sein.«
Ich sah auf die Uhr. Es war schon fast sieben. Ich hatte nichts vor
an diesem Abend. AuÃerdem war ich hungrig.
»Hätten Sie Lust, heute ausnahmsweise nicht allein in Judith
Landersâ alter Stammkneipe zu sitzen?«
Plötzlich lächelte sie.
24
Mit deutlichem Abstand zwischen uns gingen wir in Richtung
Innenstadt, wie sich das gehört für Menschen, die nichts weiter sind als
Kollegen. Ein Gespräch wollte nicht recht in Gang kommen. Ãber die Arbeit zu
sprechen, hatte ich mir verboten. Und wenn ich ehrlich war, dann gab es nichts,
was ich von meiner Begleiterin hätte wissen wollen. Längst verwünschte ich
meine verrückte Idee, den Abend mit ihr zu verbringen.
»Sie haben Töchter?«, fragte Helena Guballa vermutlich aus purer
Verlegenheit.
»Zwillinge. Sie sind vor Kurzem sechzehn geworden.«
»Ein schwieriges Alter, stelle ich mir vor.«
»Wie waren Sie denn mit sechzehn?«
Sie lachte! Helena Guballa konnte lachen! Ihre braunen Haare wippten
im Rhythmus ihrer Schritte, die kürzer waren als meine. Sie trug halbhohe
Schuhe, die kaum Geräusche machten. Heute steckte sie nicht in ihrem
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