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Die falsche Herrin

Die falsche Herrin

Titel: Die falsche Herrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margrit Schriber
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der Kirche zu zeigen.
    Das Mädchen kniet in der äußersten Bankecke am Mittelgang. Mit Sicht zu den Chrützen der Höheren. Diese Gebetsstühle haben Armlehnen, diejenigen der Reding sind mit dem Familienwappen geschmückt.
    Wider Erwarten zeigt sich das Mädchen als fleißige Kirchgängerin. Es lauscht aufmerksam, als möchte es kein Wort verlieren von den Gleichnissen und den biblischen Geschichten. Wie Gott Wasser und Luft teilt, Blumen und Tiere erschafft. Wie Adam mit Eva so sorglos, satt und glücklich und ohne jemals arbeiten zu müssen, durch den Garten Eden schlendert. Wie Gott einen Regen von Manna über die Wüste fallen lässt und wie eine Sintflut die Arche mit den darin geborgenen Tieren verschont.
    Bei Joannes Bossert durfte sie an Ostern und Weihnachten zur Predigt, und das auch nur, weil er an hohen Feiertagen mit seiner Familie und dem Tross seines Gesindes vorbeiziehen kann am wartenden Volk und an den Honoratioren, den Fahnenträgern und einer Musikkapelle. In der Kirche nimmt er zwei Bankreihen ein. Die ganze Stadt soll sich wundern über die Größe des Hauses Bossert. An allen anderen Sonntagen arbeiten seine Dienstleute – die Mägde und Knechte knien sich beim Glockengeläut nieder, wo sie sich gerade aufhalten, zwischen Bottichen, am Feuerloch, auf dem Mist. Bisweilen streckt eine Magd oder ein Knecht sich auf dem Boden aus, bleibt vor Erschöpfung liegen und schläft ein.
    Mit den letzten Glockenschlägen zieht Joseph Anton Reding mit seiner jüngsten Tochter in die Kirche ein, da seine Frau Elisabeth vor Jahren gestorben ist. Er schreitet der Tochter voran. Sie gleitet mit winzigen Schritten und taftenen langen Röcken durchs Kirchenschiff. Ihre Fußspitze stupst in die Masse der Falten und wirft den Rock hoch. Sie fließt über die Fliesen unserer Pfarrkirche wie das Wasser der Muota über die Steine der Schlattlischlucht. Ein Duft von Rosen breitet sich aus. Immer hängt der perlenbesetzte Taschenbeutel an Fräulein Redings Handgelenk. Und wenn sie auf Knien die Hände vor dem Gesicht faltet, um den Mund zum Gebet auf die Fingerspitzen zu legen, baumelt der Beutel mit seinen leise klirrenden Perlenfransen vor ihrem Bauch. Das Fräulein versinkt in Reglosigkeit. Ganz selten nestelt es die Schnur des Beutelchens auf, um ein Fazolet herauszuziehen und an die Nase zu drücken. Bewegungslos lauscht es der Predigt, den Gesängen, dem Knacken des schwingenden Weihrauchfasses an seiner Kette.
    Die Besitzer eines Armstuhls in der Chrützen empfangen als Erste den Segen, sie ziehen als Erste durchs Kirchenschiff zum Ausgang. Die Redingin: das fortrauschende Wasser der Muota.
    Die Bitzenin drückt ihren Wollhut ans Mieder und zieht den vorüberwehenden Rosenduft ein. Sie versinkt in den Anblick der gestickten Schuhspitzen, die eine um die andere raschelnd den Taft hochwerfen, Schrittchen um Schrittchen. Versinkt in jedes Kringelchen der Rüsche, jedes Motiv ihrer Spitzen, jeden Faltenwurf. Sie folgt der Wellung des Halsmantels um die eingeschnürte Taille und der Biegung des langen zarten Halses, der dem Stengel einer Tulpe gleicht.
    «Sie ist mir gefolgt», berichtet das Fräulein. «Wartete im Schutz des Kirchenportals, während draußen auf dem Kirchplatz mein Herr Papa den Gruß von Honoratioren entgegennahm und ich einen Knicks andeutete. Weil Papa eine Affaire délicate besprach und nach Minuten noch nicht kam, schwang ich meinen Beutel und tändelte mit meinem Parasol, bis er mich bemerkte und mir erlaubte, schon voranzugehen und der Gouvernante zu vermelden, dass er später komme… Das Mädchen hat mir aufgelauert. Une criminelle.»
    «Das Ende!» Sie wirft es der Bitzenin an den Kopf und enteilt über Blumen.
    Die Kleine boxt eine Beule in den Wollhut und schaut eine Weile hinein. Sie ist so ins Schauen verloren, dass sie sich fortzurühren vergisst. Als wäre sie vors Hoftor der Reding gebannt. Wie Lots Weib, das auf etwas blickt, das kein Sterblicher sehen darf. Aber der Kleinen stand nicht der Untergang vor Augen, sondern das Paradies in seiner Pracht. Blumen wie auf einem Helgen mit dem Jesuskind. Dort schleppen die Evas keine Wäschebottiche, sondern liegen mit ihren Adams im Moosbett und zählen am Himmel die Sterne.
    Anna Maria fasst einen Entschluss.
    Sie muss das Dorf verlassen, wenn sie ein Tor finden will, das sich vor ihr öffnet.
    Schwyz ist umgeben von Bergen. Auf der Straße nach Zug würde sie abgefangen. Übers Gebirge führen Pfade, doch sie sind mühsam und schlecht.

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