Die falsche Tochter - Roman
reden. Nur Sie und ich.«
Suzanne setzte sich ebenfalls, schlug die Beine übereinander und lächelte. »Werden Sie lange in Woodsboro bleiben?«
»Nur ein oder zwei Tage. Wir wollten uns die Ausgrabung ansehen. Callie arbeitet nicht so oft in unserer Nähe … Oh, es ist alles so peinlich.«
»Peinlich?«, wiederholte Suzanne.
»Ich dachte, ich wüsste eigentlich, was ich sagen wollte und wie ich es Ihnen sagen wollte. Ich habe mich heute früh extra eine Stunde lang im Badezimmer eingeschlossen und vor dem Spiegel geübt. Als ob ich Schauspielerin wäre.« Vivians Stimme
klang belegt. »Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll. Was nützt es Ihnen, wenn ich Ihnen sage, dass es mir Leid tut? Es ändert sich ja dadurch nichts, Sie bekommen ja trotzdem nicht zurück, was Ihnen weggenommen wurde. Und wie könnte ich behaupten, dass es mir Leid tut, dass ich Callie gehabt habe? Das ist doch unmöglich. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was Sie durchgemacht haben.«
»Nein, das können Sie auch nicht. Jedes Mal, wenn Sie sie im Arm gehalten haben, hätte eigentlich ich sie halten sollen. Als Sie sie am ersten Schultag zur Schule gebracht haben, hätte eigentlich ich ihr stolz und ein wenig traurig zugleich nachschauen sollen. Ich hätte ihr Gutenachtgeschichten erzählen und mir in der Nacht Sorgen machen sollen, wenn sie krank war. Ich hätte sie bestrafen sollen, wenn sie nicht gehorchte, und ich hätte ihr bei den Schulaufgaben helfen sollen. Ich hätte ein paar Tränen vergießen sollen, als sie ihre erste Verabredung hatte. Und ich hätte den Verlust empfinden sollen, als sie zum College ging, dieses kleine leere Gefühl im Herzen.«
Suzanne legte die Faust auf ihr Herz. Steif saßen die beiden Frauen einander in dem hübschen Zimmer gegenüber und empfanden nur Bitterkeit.
»Ich kann Ihnen all das nicht wiedergeben.« Vivian hob den Kopf und straffte ihre Schultern. »Und ich weiß tief in meinem Herzen, dass ich gekämpft hätte, um all das zu behalten, wenn wir zehn, zwanzig Jahre früher davon erfahren hätten. Ich hätte Callie um jeden Preis behalten wollen, und ich kann nicht vorgeben, dass es anders gewesen wäre.«
»Ich habe sie neun Monate in mir getragen, ich habe sie im Arm gehalten, als sie ihren ersten Schrei getan hat.« Suzanne beugte sich vor, als wolle sie aufspringen. »Ich habe ihr das Leben geschenkt.«
»Ja. Und diese Erfahrung fehlt mir. Dieses Band wird mich nie mit ihr verbinden, sondern immer nur Sie, und deshalb werden Sie auch immer wichtig für Callie sein. Ein Teil des Kindes, das ich großgezogen habe, wird immer Ihnen gehören.« Vivian schwieg für einen Moment und rang um Fassung.
»Ich kann nur schwer nachvollziehen, was Sie empfinden, Mrs Cullen, und Ihnen geht es sicher bei mir genauso. Und vielleicht wollen wir einander auch gar nicht verstehen. Am meisten macht mir jedoch zu schaffen, dass wir nicht wissen, wie sich Callie fühlt.«
»Ja«, erwiderte Suzanne mit bebender Stimme. »Wir können nur versuchen, es ihr so leicht wie möglich zu machen.«
Sie wusste, dass Vivian und sie eine gemeinsame Basis finden mussten. Um des Kindes willen, das sie beide verband, durfte nicht nur Wut herrschen. »Ich will sie nicht verletzen, niemand darf sie verletzen. Und ich habe Angst um sie, Angst, weil jemand sie daran hindern will, die Antworten auf ihre Fragen zu finden.«
»Sie wird trotzdem nicht aufgeben. Ich habe schon überlegt, ob wir beide nicht zu ihr gehen und sie bitten sollten, ihre Nachforschungen einzustellen. Ich habe auch schon mit Elliot darüber gesprochen. Aber Callie wird nicht aufgeben. Wir würden sie nur unnötig verärgern, wenn wir sie um etwas bitten, das sie nicht tun kann.«
»Mein Sohn ist im Moment in Boston und versucht, dort etwas herauszufinden.«
»Wir haben Erkundigungen bei den Ärzten eingezogen. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Henry … mein Arzt —« Vivian brach ab und spielte mit ihrer goldenen Halskette. »Wenn Callie herausfindet, was damals geschehen ist — und das wird der Fall sein –, werden einige Leute bezahlen müssen. Und zumindest ist sie jetzt nicht allein. Sie hat ihre Familie, ihre Freunde und Jacob.« Zum ersten Mal, seit sie Suzannes Haus betreten hatte, lächelte Vivian. »Ich hoffe, die beiden kommen dieses Mal miteinander klar. Ich … ich sollte jetzt wohl besser gehen, aber ich wollte Ihnen das hier noch geben.«
Sie griff nach ihrer Tasche, die sie neben dem Sessel abgestellt
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