Die Falsche Tote
gewöhnlich für jede Kleinigkeit zum Bankautomaten und hob immer nur minimale Summen ab. Das erinnerte ihn an seine Mutter, die jeden Tag zwei Kilometer zum Konsum gelaufen war, aber nicht, weil sie jeden Tag frisches Gemüse gekauft hätte. Nein, immer nur Konserven, aber jeden Tag nur eine. Die Liste von Josefins Kontobewegungen umfasste nur das letzte Halbjahr. Dennoch kam ein fingerdicker Stapel zusammen. Sie hatte mindestens einmal am Tag, an Wochenenden manchmal sogar viermal, Geld abgehoben, im Durchschnitt zweihundert Kronen, also so gut wie nichts.
Henning nahm sich die letzten fünf Seiten vor und begann bald, mit dem Kugelschreiber ein Diagramm auf die Schreibtischunterlage zu kritzeln. Nach ihrer Rückkehr aus Frankreich hatte Josefin mit derselben Häufigkeit weiter abgehoben, aber von da an keine kleinen Summen mehr. Am Tag der Rückkehr nach Stockholm hatte sie ein Guthaben von 79 000 Kronen besessen. Das war viel für eine Studentin und entsprach dem Monatseinkommen ihres Vaters. Die Liste reichte bis vorgestern, also einen Tag vor dem Mord. Henning schluckte den letzten Rest der Pastille hinunter und wählte die Nummer der Bank. Nein, sagte der zuständige Bearbeiter, die Liste sei vollständig. Mit der letzten Abhebung sei das Überziehungslimit erreicht worden. Seitdem konnte kein Geld mehr abgehoben worden sein.
»Würdet ihr es wissen, wenn sie es danach noch einmal versucht hat?«
Das konnte der Sachbearbeiter nicht auf Anhieb beantworten. »Wahrscheinlich kann man es herausfinden, aber nicht auf diesem Weg.«
»Auf der Liste gibt es sechs Abhebungen am Donnerstagabend in der Götgatan. War das immer derselbe Automat? Warum hat sie den Gesamtbetrag nicht auf einmal abgehoben?«
»Moment«, bekam Henning zur Antwort. Er hörte, wie am anderen Ende der Leitung getippt wurde. »Das waren verschiedene Automaten. Das ist ein wenig komisch. Eigentlich hätte sie nicht so viel an einem Tag abheben können. Ihr Tageslimit liegt bei 5000 Kronen.«
»Ist sie deshalb an sechs Automaten gewesen?«
Josefin hatte an jedem Automaten genau diesen Höchstbetrag abgehoben.
»Eigentlich bringt es nichts, zu einem anderen Automaten zu gehen. Das wird ja auf der Karte vermerkt. Der zweite Automat hätte die Abhebung verweigern müssen.«
»Aber das ist nicht der Fall. Sie hat munter weitergemacht.«
»Solche Fehler passieren dauernd.«
»Was heißt da Fehler?«, fragte Henning. »Sie muss es vorher gewusst haben, dass dieser Fehler passieren würde.«
»Es ist durchaus gang und gäbe, dass es Leute mehrmals versuchen. Auch wenn das Konto am Limit ist, probieren sie es gerne noch an anderen Automaten.«
Bevor Henning das Gespräch beendete, ließ er sich die Adressen der Automaten durchgeben. Dann zog er die oberste Schreibtischschublade auf. Er hatte Glück. Es waren noch genau sechs Stecknadeln mit roten Köpfen da. Die steckte er sich alle in den Mund und stellte sich vor den Stadtplan an der Wand. Die erste Nadel pikte er in den Medborgarplatsen. Dann ging es geradewegs auf der Götgatan nach Süden. Die zweite Nadel steckte in der Kreuzung Åsögatan, dann Folkungagatan. Das war die Gegend mit den meisten Nachtlokalen in Södermalm. Dort gab es alle fünf Meter einen Automaten, und trotzdem bildeten sich an Samstagabenden lange Schlangen. Wenn etwas typisch für Stockholm war, dann die nächtlichen Schlangen vor den Geldautomaten und kreischende Vierzehnjährige in der U-Bahn. In den Umfragen der Zeitungen, was die Stockholmer am meisten nervte, kamen diese beiden Dinge immer auf die ersten Plätze. Es gab natürlich auch lange Schlangen vor Geldautomaten mit kreischenden Vierzehnjährigen und gleichzeitigem Eisregen. Das konnte einem durchaus zustoßen, wenn man hier wohnte. Die sechste Nadel steckte in der Hauptzentrale der Kaufhauskette Åhléns an der Kreuzung Ringvägen. Dort wurde aus der Götgatan die Schnellstraße zu den südlichen Vororten. Die Entwicklung der Götgatan war ganz schön erstaunlich, dachte sich Henning, wenn man bedachte, wie mickrig sie im Norden am Slussen begann. Dort war sie eine enge und steile Gasse. Wenn Henning mehrere Automaten abklappern wollte, dann würde er genau dorthin fahren. Natürlich waren alle sechs Straßenautomaten nicht mehr als türkisfarbene Fenster in Hausfassaden. Kameras gab es nicht. Wahrscheinlich fand sich kein Personal, das kreischende Vierzehnjährige beim Anstehen beobachten wollte.
Josefin hatte seit ihrer Rückkehr aus Frankreich ihr
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