Die Falsche Tote
Tasche. Es war 7 Uhr 10. Das war genau der Zeitpunkt, wo sich zu Hause auf dem Hof ihrer Stiefeltern die Kühe Lise und Emma mit leeren Eutern auf den Trog stürzten und in der Küche der zweite Kaffee aufgegossen wurde. Sie konnte vor sich sehen, wie Bengt und Papa aus unterschiedlichen Richtungen über den Hof auf das Haus zugingen. Sofi wartete noch zehn Minuten, also so lange, wie Papa brauchte, um die erste Untertasse voll Kaffee zu schlürfen. Dann rief sie an.
Dass Sofi in Deutschland war, wunderte die Leute vom Johansson-Hof überhaupt nicht. Schon als Mädchen hatte es sie ja beim Spielen bis zum Birkenweiher verschlagen. Bengt zählte auf, wie oft man sie dort hatte suchen müssen. Es entstand ein kurzes Schweigen, wie es auf dem Land am Telefon gang und gäbe war. Sofi wurde wieder klar, dass die Leute auf so mondäne Neuigkeiten nichts zu antworten wussten. Und wenn man nichts zu sagen hatte, dann schwieg man. Daran musste sie sich erst wieder gewöhnen. Wenn sie den Hof besuchte, dann ließ sie sich dazu hinreißen, eine Stunde lang von ihrem Leben zu erzählen. Das machte die Leute nervös. In den ersten Tagen telefonierte sie dann immer am Abend mit einer Freundin aus Stockholm, um sich abzureagieren, bis es ihr nach Tagen ganz natürlich vorkam, ihre Mitteilungen gut zu dosieren.
»Und was macht ihr so?«, fragte sie.
»Ich habe mir gestern mal ordentlich die Große vorgenommen«, sagte Bengt und meinte damit die größere der beiden Scheunen, wo der Traktor überwinterte.
Sofi hatte den metallisch-sauren Geruch in der Nase, der auf der anderen Seite des Hörers noch in der Küche hängen musste. Das roch man immer tagelang, wenn Mama neue Außenfarbe zusammengekocht hatte. »An der Rückwand, oder?«
Zwei Frauen joggten an Sofi vorbei. Ihr Blick fiel auf die Gestalt am anderen Ufer. Wahrscheinlich ein Hundebesitzer. Sofi versuchte, den Hund zwischen den Büschen auszumachen, während sie auf Bengts Antwort wartete.
»Da gab’s’ne Menge Planken, die rausmussten«, sagte er irgendwann. »Kommst du schon am Freitag?«
Sofi hörte die Frage, aber sie drehte in ihrem Gehirn nur ihre Runden, ohne bearbeitet zu werden. Sofi konzentrierte sich ganz auf die Gestalt, die dort drüben vor den Bänken auf- und ablief. Während in ihrem Kopf etwas reagierte, was sie nicht verstand, antwortete sie mechanisch mit ja.
»Ich rufe am Samstag noch einmal an, ja?«, sagte sie und ließ ihre rechte Hand mit dem Telefon in ihren Schoß sinken. Obwohl der Mann so weit weg war, konnte sie ihn in allen Einzelheiten erfassen, so wie man im Stimmengewirr einer vollen U-Bahn auf einmal ein Gespräch am anderen Ende des Waggons klar versteht. Wo hatte sie den Mann schon einmal gesehen? Sofi spulte alle Begegnungen seit dem Flug vor ihrem Auge ab. Es musste viel länger her sein. Obwohl der Mann schlenderte und nach einigen Schritten immer wieder kurz stehen blieb, hatte er dabei den Arm zum Kopf gehoben. Er telefoniert, dachte Sofi. Ihr Eindruck konnte ein Phänomen sein, das man bei der Polizei oft erlebte. Wenn man Angst hatte oder aufgeregt war, oder wenn es zu viele Reize gab, dann konnte es passieren, dass das Gehirn die Information zweimal abspeicherte, was dazu führte, dass man etwas zu kennen glaubt, obwohl man es nie zuvor gesehen hat.
Sofi stand abrupt von ihrer Bank auf und lief schräg über die Aue auf die Holzbrücke zu. Nun versperrten Büsche die Sicht auf den Mann. Sie beschleunigte. Als sie die Brücke erreichte, war der Mann von seiner Stelle verschwunden. Sie rannte über die Brücke und hinein in den dunklen Weg, auf den die Baumkronen lückenlosen Schatten warfen. Der Mann konnte nur hier hineingegangen sein, wenn er nicht in die dichten Büsche gehechtet war. Der Weg stieg sogleich steil an und wand sich in Serpentinen an der hohen Böschung hinauf. Sofi lief weiter auf dem Gemisch aus Kies und weichem Torf. Ihr Blick reichte zwanzig Meter bis zur nächsten Kehre. Dort angekommen blieb sie stehen und horchte. Weiter oben lief jemand. Sie setzte sich wieder in Bewegung und nahm Kehre um Kehre, bis es auf einmal gleißend hell wurde. Sie hatte die Straße erreicht und blickte in die tief stehende Morgensonne. Sie hatte sich nicht geirrt. Aufgeregt ging sie in die eine und in die andere Richtung an den parkenden Autos entlang. Es gab zu viele Möglichkeiten. Ihr war ganz heiß. Wenn sie morgens rennen musste, staute sich sofort eine unbehagliche Wärme in ihr. Sie konnte nicht verstehen, wie
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