Die Falsche Tote
Menschen morgens Sport treiben konnten. Sie suchte sich eine Stelle, wo die Bäume sich ein wenig öffneten und einen Blick hinab auf den Fluss zuließen. Unter den sich bewegenden Punkten spähte sie nach der braunen Lederjacke, bis sie zu Ende gekeucht hatte. Dann stieg sie den Weg wieder hinab. Erst jetzt fiel ihr auf, wie steil er tatsächlich war. Jeder Schritt abwärts versetzte ihr einen Schlag, den ihre steifen Knie bis zum Kopf weiterleiteten. Sie hatte sich nicht geirrt, der currybraune Bart, den hatte sie schon einmal gesehen, und das war nicht in den letzten Tagen gewesen.
Er hatte die ganze Nacht wie ein Brett auf dem Rücken gelegen. Alles Schlechte in ihm war nach unten gesackt und hatte sich in seinem Hinterkopf gesammelt, dicht unter der Schädeldecke. Kjell stöhnte und hob benommen den Kopf. Rotwein! Da wachte er am nächsten Morgen mit dem Gefühl auf, bis zum Hals in einem Sumpfloch zu stecken. Oder genauer gesagt, in drei Sumpflöchern.
Er robbte zum Ende des Bettes, bis er die roten Ziffern auf dem Fernseher erkennen konnte. Acht Uhr und 38 Minuten. Nach zwei Versuchen hatte er 38 von sechzig subtrahiert und wusste, dass er noch 22 Minuten Zeit hatte. Oder 12 Minuten. Das konnte auch sein, war aber unwahrscheinlicher. Von den zweiundzwanzig Minuten verbrachte er sechzehn unter der Dusche. Dabei dachte er an all die schönen salzigen Sachen, die am Frühstücksbüffet auf ihn warteten. Damit würde er es schaffen. Er öffnete die Tür zum Verbindungsraum der kleinen Suite. Der Besprechungstisch war mit Papieren und Sofis Computerkram gefüllt. Wie sie das alles in den kleinen Koffer hineinbekommen hatte, war wirklich unheimlich. Er entdeckte sein Telefon auf dem Tisch und klappte es auf. Henning hatte heute Morgen schon viermal angerufen. Kjell klappte das Telefon zu. Er rief nie vor dem ersten Kaffee zurück. Und er nahm auch nicht ab. Außer jetzt. Das Telefon vibrierte in seiner Hand. Zum Glück war Henning ebenso einsilbig wie er an einem Morgen nach drei Flaschen Cabernet. Deshalb war ein Gespräch möglich.
»Du solltest zur Rezeption hinuntergehen und am Fax warten«, sagte Henning. Auch er klang müde, wie Kjell an seinem langsamen Sprechen bemerkte.
Nach dem Auflegen horchte er an der Tür zu Sofis Zimmer. Wenn man davon absah, dass ihre Lippen zu glänzen begannen, so machte sich Alkohol bei ihr vor allem darin bemerkbar, dass sie die räumliche Distanz und Unnahbarkeit aufgab, die man auch spürte, wenn man nur zufällig neben ihr auf dem Bahnsteig wartete. Ganz sicher war es ihr nicht bewusst, ganz sicher fragte sie sich insgeheim, warum die anderen sich ihr nicht näherten.
Aus ihrem Zimmer drang kein einziges Geräusch. Er klopfte sachte. Entweder schlief sie noch oder war längst nach unten gegangen. Er klopfte noch einmal, bevor er die Tür einen Spalt weit öffnete. Sie saß mit nassem Haar auf dem Bett und schrieb in ihrem Notizblock. Das Handtuch, das bis vor Kurzem noch ihr einziges Kleidungsstück gewesen war, lag neben ihr. Ihr Summen brach sofort ab. Wie auch immer sie sein Eindringen augenblicklich bemerkte, als sie ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte, entdeckte er das Kopfhörerkabel, das auf der Höhe ihrer Schultern unter dem glänzenden Haar verschwand.
»Entschuldigung«, murmelte er so leise, dass er es selbst kaum hörte. Noch nie wurde eine Tür so schnell geschlossen wie in diesem Augenblick.
Er schloss die Augen, um kein Teil der Weltgeschichte mehr zu sein. Das dauerte sieben Sekunden. Dann stürzte er aus dem Zimmer und saugte auf dem Weg zum Frühstücksraum so viel von dem Hotelflurgeruch in sich auf, wie es bedurfte, um das brennende Bild auf seiner Netzhaut zu löschen. Aber der Anblick der nackten Sofi würde schwerer wegzubekommen sein als der frische Rotweinfleck auf seinem weißen Hemd.
Es dauerte neunzehn Minuten, bis Sofi in ihrer weiten grünen Kargohose und dem langärmligen T-Shirt beim Frühstück erschien. Der Tischnachbar erklärte Kjell gerade, dass die deutsche Regierung die Reformierung der Rechtschreibung als richtiges Mittel auserkoren hatte, um ihr Volk ins einundzwanzigste Jahrhundert zu führen, deshalb sehe die Zeitung so merkwürdig aus. Sofi setzte sich unauffällig und sortierte ihr Besteck. Kjell schenkte Kaffee in ihre Tasse, wie er es am Morgen bei Linda oft tat. Leider verkannte Sofi die väterliche Fürsorge dieser Geste. Alles war peinlich. Sie flüchtete zum Büffet. Als sie zurückkehrte, war der deutsche
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