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Die Familie ohne Namen

Die Familie ohne Namen

Titel: Die Familie ohne Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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den Wellen des Sees badete. Hier unter diesen Bäumen, welche die Winterkälte ganz erstarrt hatte, brauste der eisige Samum dahin, dessen Wirbel die Oberfläche des Ontario in Aufruhr brachten.
    Da sagte der Abbé Joann zu dem jungen Schreiber:
    »Bleiben Sie hier, Lionel, ohne sich Jemand zu zeigen, und erwarten Sie meine Rückkehr. Die Wachtposten im Ausfalltsthore dürfen Sie nicht gewahr werden. Ich werde versuchen, in das Fort zu gelangen und mit meinem Bruder in Verbindung zu kommen. Gelingt mir nun das, so besprechen wir Beide die Möglichkeit einer Flucht. Wäre eine solche ganz unausführbar, so prüfen wir die Aussicht eines Angriffs, den die Patrioten unternehmen könnten, im Falle die Besatzung von Frontenac nicht gar zu zahlreich ist.«
    Es liegt auf der Hand, daß ein derartiger Angriff länger dauernder Vorbereitungen bedurft hätte. Ueberdies wußte der Abbé Joann noch nicht, da sich die Nachricht hiervon bisher kaum verbreitet hatte, daß das Urtheil vor zwei Tagen ergangen war und daß der Befehl zur Hinrichtung von einer Stunde zur anderen eintreffen konnte. Jenen Handstreich gegen das Fort Frontenac betrachtete der junge Priester auch nur als das äußerste Mittel; er bezweckte vielmehr, Johann Mittel und Wege zu verschaffen, in kürzester Frist zu entweichen.
    »Haben Sie, Herr Abbé, fragte Lionel, einige Hoffnung, Ihren Bruder zu sehen zu bekommen?
    – Lionel, könnte man den Eintritt ins Fort einem Diener des Herrn verweigern, der einem jedenfalls zur Todesstrafe verurtheilten Gefangenen den Trost der Religion bringen will?
    – Das wäre unwürdig!… Das wäre abscheulich! antwortete Lionel…. Nein! Man wird es Ihnen nicht abschlagen!… Gehen Sie, Herr Abbé, ich werde hier warten.«
    Der Abbé Joann drückte dem jungen Schreiber die Hand und verschwand um den Rand des Waldes.
    In weniger als einer Viertelstunde hatte er das Ausfallsthor des Fort Frontenac erreicht.
    Das am Strande des Ontario errichtete Fort bestand aus einem in der Mitte gelegenen Blockhaus, welches hohe Palissaden umgaben. Am Fuße dieser Umplankung und nach der Seite des Sees hin erstreckte sich ein frei gelegtes schmales Gestade, welches jetzt unter der Schneedecke verschwand und mit der am Rande übereisten Seefläche verschmolz. An der anderen Seite stieß ein Dorf mit wenigen Feuerstätten daran, das in der Hauptsache von Fischersleuten bewohnt war.
    Doch würde zunächst ein Entweichen und dann eine Flucht durch das Land möglich sein? Würde Johann seine Zelle verlassen, die Palissaden erreichen und die Aufmerksamkeit der Wachthabenden täuschen können? Das sollte von ihm und seinem Bruder erwogen werden, wenn dem Abbé Joann der Zutritt zum Fort nicht verboten wurde. Einmal in Freiheit, wollten sich Beide mit Lionel nicht nach der amerikanischen Grenze, sondern nach dem Niagara und der Insel Navy wenden, wo die Patrioten sich gesammelt hatten, um einen letzten Befreiungsversuch zu wagen.
    Nachdem der Abbé Joann schräg über das Vorland geschritten, langte er vor dem engen Thore an, neben dem ein Wachtposten auf und ab ging. Er sprach den Wunsch aus, dem Commandanten des Forts zugeführt zu werden.
    Ein Sergeant trat aus dem Wachtlocal, das sich im Innern der Palissade befand. Der ihn begleitende Soldat trug eine Fackel, da es bereits ganz dunkel geworden war.
    »Was wollen Sie? fragte der Sergeant.
    – Mit dem Commandanten sprechen.
    – Und wer sind Sie?
    – Ein Geistlicher, der dem gefangenen Johann ohne Namen seinen Beistand leisten will.
    – Sie können sagen dem verurtheilten!…
    – Ist das Urtheil schon gefällt?
    – Vorgestern, und Johann ohne Namen ist damit dem Tode verfallen!«
    Der Abbé Joann besaß Selbstbeherrschung genug, um nichts von seiner Erregung zu verrathen, und er begnügte sich zu antworten:
    »Das ist nur ein Grund mehr, einem Verurtheilten den Beistand des Geistlichen nicht zu versagen.
    – Ich werde dem Major Sinclair, dem Commandanten des Forts, Meldung machen,« erwiderte der Sergeant.
    Er begab sich mit diesen Worten schon nach dem Blockhause, während er den Abbé Joann zunächst in das Wachtlocal eintreten ließ.
    Dieser setzte sich in einer dunklen Ecke nieder und überdachte, was er soeben gehört.
    Die Verurtheilung war ausgesprochen. Sollte es ihm da nicht an Zeit fehlen, seine Pläne auszuführen? Doch da der schon vor vierundzwanzig Stunden gefällte Urtheilsspruch bis jetzt noch nicht vollzogen war, so konnte das doch vielleicht daher rühren, daß der Major

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