Die Familie ohne Namen
Individuum auf den Wagen zu und machte dem Kutscher Zeichen, die Pferde anzuhalten.
»Habt Ihr noch einen Platz? fragte er.
– Einen und auch »dree«, antwortete Tom, der seiner Gewohnheit nach diese Silbe nach canadischer Mundart aussprach, wie der gewöhnliche Mann für zwei bei uns »zwee« sagt.
Der Reisende nahm auf der Bank vor Lionel Platz, nachdem er Herrn Nick und dessen Schreiber gegrüßt hatte. Der Wagen rollte in langsamem Trabe weiter, und wenige Minuten später bei der Straßenbiegung am Mont-Royal verschwanden die mit Weißblech bedeckten Dächer der Stadt, welche in der Sonne wie ebenso viele silberne Spiegel erglänzten.
Der Notar hatte den neuen Ankömmling nicht ohne innere Befriedigung einsteigen sehen; so konnte man während der vier Lieues, welche Montreal vom oberen Arme des St. Lorenzo trennen, doch ein wenig plaudern. Es schien aber nicht, daß der Fahrgast in der Stimmung sei, sich in ein solches Gelegenheitsgespräch verwickeln zu lassen. Nachdem er sich Herrn Nick und Lionel kurz betrachtet, machte er es sich in seiner Ecke bequem und schien mit halb geschlossenen Augen seinen eigenen Gedanken nachhängen zu wollen.
Es war ein junger Mann von kaum neunundzwanzig Jahren. Der hohe Wuchs, die energischen Züge, der kräftige Körperbau, der männliche Ausdruck des Gesichtes mit der hohen Stirne und schwarzen Haaren darüber, stempelten ihn zum vollständigen Typus der franco-canadischen Race. Wer er war, woher er komme – das wußte Meister Nick, der doch fast alle Welt kannte, nicht; jedenfalls hatte er ihn noch niemals gesehen. Betrachtete er den jungen Mann jedoch mit mehr Aufmerksamkeit, so schien es, daß derselbe trotz seiner jungen Jahre wohl schon manche harte Prüfung bestanden und sich durch die Schule des Unglücks hindurchgerungen habe.
Daß der Unbekannte der Partei angehörte, welche für die nationale Unabhängigkeit kämpfte, zeigte sich schon an seiner Kleidung. Er trug sich beinahe wie jene unerschrockenen Abenteurer, welche man noch jetzt mit dem Namen »Waldläufer« bezeichnet; den Kopf bedeckte eine blaue »Tuque«, und seine Kleider – eine Art über der Brust sich kreuzender Mantel, Beinkleider von grobem grauen Gewebe und an der Taille durch einen rothen Gürtel gehalten – bestanden einzig aus »Stoffen des Landes«.
Man erinnere sich hierbei, daß diese einheimischen Stoffe einem politischen Proteste gleichkamen, welcher die aus England eingeführten Manufacturwaaren ausschloß. Es war das einer der tausend Kniffe, um der Autorität der Hauptstadt zu trotzen, und dieses Beispiel war schon vor längerer Zeit einmal gegeben gewesen.
Hundertfünfzig Jahre früher hatten die Bostoner ja aus Haß gegen Großbritannien den Genuß des Thees in die Acht erklärt. Und so wie damals sich nur die Loyalisten nicht daran kehrten, so versagten sich jetzt die Canadier die Benutzung der im Vereinigten Königreich hergestellten Stoffe. Herr Nick in seiner Eigenschaft als Neutraler trug freilich Beinkleider von canadischer und einen Ueberrock von englischer Herkunft. In das patriotische Costüm Lionels hatte sich indeß kein Fädchen verirrt, das jenseits des Atlantischen Oceans gesponnen gewesen wäre.
Das Gefährt rollte indessen ziemlich schnell über die holprigen Wege der Ebenen, welche die Insel Montreal bis zum Mittellaufe des St. Lorenzo einnehmen. Wie schlich die Zeit langsam hin für Herrn Nick mit seiner plauderseligen Natur! Da der junge Mann aber nicht geneigt schien, das Wort zu ergreifen, mußte er sich schon auf Lionel beschränken, und that das in der Hoffnung, daß ihr Reisegefährte sich schon zuletzt in das Gespräch mischen werde.
»Nun also, Lionel, Dein Irrlicht? fragte er.
– Mein Irrlicht?… antwortete der junge Schreiber betroffen.
– Ja, ich sehe mir die Augen müde, kann aber auf der ganzen Ebene keines entdecken.
Tom klaschte laut mit seiner Peitsche. (S. 53.)
– Das liegt an der Helligkeit des Tages, Herr Nick, erklärte Lionel, entschlossen auf diesen scherzenden Ton einzugehen.
– Wenn wir vielleicht das alte Lied anstimmten:
Vorwärts, lustig, Bruder Kobold,
Vorwärts, lustig, Nachbar mein!…
Doch nein, der »Bruder« gibt keine Antwort. – Ei, Lionel, Du kennst doch wohl das Mittel, sich vor den Neckereien der Irrlichter zu schützen?
– Gewiß, Herr Nick. Man braucht sie nur zu fragen, der wievielste Tag nach Weihnachten ist, und da sie das nicht gleich wissen, hat man Zeit, sich zu retten, während sie auf
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