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Die Familie ohne Namen

Die Familie ohne Namen

Titel: Die Familie ohne Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Versammlung erkennen, auf welche der Armleuchter von der Decke ein ungewisses Licht niederwarf.
    Johann, der nicht mehr erkannt zu werden fürchtete – wenn man sich seiner überhaupt noch erinnerte – hatte einen Augenblick die Absicht, sich unter die Andächtigen zu mischen, in diese Kirche einzutreten, dem Abendgottesdienste beizuwohnen und auf diesen Bänken niederzuknien, auf denen er als Kind seine ersten Gebete gelallt hatte. Anfänglich aber schon nach der entgegengesetzten linken Seite des Platzes hingezogen, gelangte er nach der Ecke, wo sein Vaterhaus gestanden…
    Er entsann sich genau; hier war es erbaut gewesen. Deutlich traten ihm alle Einzelheiten vor die Augen, das Gitter, welches einen kleinen Vorraum abschloß; der Taubenschlag, der den Giebel rechter Hand überragte; die vier Fenster des Erdgeschosses, die Thür in der Mitte; das Fenster zur Linken im ersten Stockwerk, wo ihm seine Mutter inmitten der dasselbe schmückenden Blumen so oft erschienen war. Er zählte fünfzehn Jahre, als er Chambly zum letzten Male verließ. In diesem Lebensalter haben sich alle Eindrücke schon tief ins Gedächtniß eingegraben. Hier, genau an dieser Stelle, mußte die Wohnung sich befinden, welche die Vorfahren seiner Familie, schon in der ersten Zeit der canadischen Colonie, errichtet hatten.
    Jetzt war kein Haus mehr an dieser Stelle – nichts fand sich, als ein Haufen Ruinen; nicht diejenigen, welche allmählich durch die Länge der Zeit entstehen, sondern solche, welche irgend ein trauriges, düsteres Vorkommniß hinterlassen. Hier konnte über dieses gar kein Zweifel aufkommen. Verglaste Steine, geschwärzte Mauerreste, Stücken verkohlter Balken und Haufen von Asche, welche mit der Zeit verbleichte, verriethen, daß das Gebäude schon vor längerer Zeit ein Raub der Flammen geworden war.
    Ein entsetzlicher Gedanke durchzuckte Johann. Wer hat diese Feuersbrunst verschuldet?… War sie ein Werk des Zufalls, der Unvorsichtigkeit?… War hier die Hand eines Verbrechers im Spiel gewesen?…
    Mit unwiderstehlicher Gewalt dahin gezogen, betrat Johann die Ruinen… Er theilte mit dem Fuße die Asche auf dem Boden. Einige Fledermäuse flatterten davon. Ohne Zweifel, hierher kam niemals Jemand. Warum hatte man aber, hier an der belebtesten Stelle des Fleckens, diese Ruine unberührt liegen lassen? Warum hatte man sich nach dem Brande nicht einmal die Mühe genommen, die Baustelle freizulegen?
    Im Laufe der zwölf Jahre, seit er das Vaterhaus verlassen, hatte Johann niemals gehört, daß dasselbe zerstört sei, daß es weiter nichts mehr bilde, als einen wirren Haufen vom Feuer geschwärzter Steine.
    Regungslos, krampfhaft zuckenden Herzens dachte er an die traurige Vergangenheit, an die noch traurigere Gegenwart…
    »He, was machen Sie da, Herr?« rief ihm jetzt ein alter Mann zu, der auf dem Wege zur Kirche stehen blieb.
    Johann, der ihn gar nicht gehört hatte, gab keine Antwort.
    »He, wiederholte der alte Mann, sind Sie etwa taub?… Bleiben Sie nicht dort!… Wenn Sie Einer sähe, würden Sie Gefahr laufen, schlecht anzukommen!«
    Johann verließ die Ruine, kam nach dem Platz zurück und wendete sich an den, der ihn angesprochen hatte.
    »Sprecht Ihr mit mir? fragte er.
    – Ja wohl mit Ihnen, Herr. Es ist verboten, diesen Ort zu betreten!
    – Und weshalb?
    – Weil derselbe verflucht ist!
    – Verflucht!« murmelte Johann.
    Dieses Wort wiederholte er jedoch mit so leiser Stimme, daß der alte Mann ihn nicht verstehen konnte.
    »Sie sind wohl fremd hier, Herr?
    – Ja, antwortete Johann.
    – Und sind jedenfalls seit so manchen Jahren nicht nach Chambly gekommen?…
    – Ganz recht, seit vielen Jahren nicht mehr!…
    – Dann ist’s ja nicht zu verwundern, daß Sie nichts davon wissen. Glauben Sie mir… es ist ein guter Rath, den ich Ihnen gebe, gehen Sie nicht noch einmal zwischen diese Trümmer hinein.
    – Ja, weshalb denn?
    – Weil Sie sich schänden würden, wenn Sie nur die Schuhsohlen mit dieser Asche beschmutzen. Das war hier das Haus des Verräthers…
    – Des Verräthers?
    – Ja, des Simon Morgaz!«
    Er wußte es ja zu gut, der Unglückliche.
    Von der Wohnstätte also, von der man seine Familie vor zwölf Jahren vertrieben, von der Wohnstätte, die er noch ein letztes Mal hatte wiedersehen wollen und die er für noch vorhanden hielt, war nichts mehr übrig, als einige durch Feuer zerstörte Mauerreste; und die Ueberlieferung hatte daraus einen so verachteten Ort gemacht, daß Keiner es wagte,

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