Die Familie Willy Brandt (German Edition)
gewünscht hätte.«
»Es wäre wohl übertrieben, wenn man daraus schlussfolgern würde, er habe sich nicht um seinen Sohn …«
»Diese Schlussfolgerung ist … bei bestimmten Dingen ist es auch tatsächlich besser, wegzubleiben.«
Matthias Brandt wird 1972 Mitglied des beschaulichen Sportvereins SSV Plittersdorf in Bonn. Vor dem Verein liegt schon die Fußball-Verrücktheit. Im Garten der Brenkes wird der Rasen bis zur Unkenntlichkeit zerspielt. Jeden Samstag sitzen die Jungs vor der »Sportschau«. In der Woche ahmen sie die Helden nach, schlüpfen in die Identität ihrer Mannschaft und lassen im Garten der Brenkes noch einmal Bayern München gegen Borussia Mönchengladbach antreten. Der SSV Plittersdorf freut sich über die beiden Neuzugänge, zumal beide ganz talentiert sind. Andreas ist ein versierter Mittelfeldspieler, Matthias trifft als Mittelstürmer. Man kleidet sich um in windschiefen Baracken, in der Erinnerung fällt immer Regen, und ständig sind die Knie von den fiesen Ascheplätzen aufgeschrammt. Eine glückliche Zeit. Die Leibwächter verschwinden hinter der Maske biederer Zuschauer. Andreas’ Vater, Hans-Georg Brenke, ist einer der Betreuer, Siegfried Adolf Magka ist der Trainer. Der ehemalige Berufssoldat arbeitet im Auswärtigen Amt als Verwaltungsangestellter und hat die Mannschaft im Griff. Zusammenhalt wird großgeschrieben, darauf legt er Wert, die Trikots schlabbern nicht lose herum, sondern stecken ordentlich im Hosenbund, die Stutzen sind hochgezogen.
Siegfried Magka hat den Umzug nach Berlin nicht mehr mitgemacht. Wir sitzen bei Kaffee und Kuchen, mit dabei sind Magkas Frau Heidi und ihr Sohn Joachim, der auch mit Matthias zusammen gespielt hat. Frau Magka, die für die Mannschaftsverpflegung sorgte, fällt sofort ein, dass Rut Brandt eines Tages bei ihr anrief und wissen wollte, was denn, bitte schön, Apfelkraut sei, denn Matthias würde nur noch von Apfelkraut reden und nichts anderes mehr essen wollen. An seinen prominenten Zögling erinnert sich Siegfried Magka, der viele Diplomatenkinder in die Mannschaft integrierte, gern: »Der Matthias konnte bei uns ein ganz normaler Junge sein. Er saugte dieses Leben auf, er wollte einfach mal sein wie alle anderen, mitlaufen, mitkämpfen für den Erfolg, denn sonst wurde ihm ja alles hinterhergetragen oder geschenkt. Bei uns bekam er erst mal nichts geschenkt, er war ein Junge wie alle anderen, und das hat ihm gutgetan.« Eines Tages kam Matthias mit einem Trikot von Partizan Belgrad zum Training, das ihm von Jugoslawiens Staatspräsidenten Tito persönlich geschenkt worden war, doch das schwarzweiße klebrige Hemd kratzte wie der Teufel, verschwand in der Trainingstasche und ward nicht mehr gesehen.
Doch umfangen von atmungsaktiver Normalität, kann es auch von Vorteil sein, Sohn des Bundeskanzlers zu sein. Am 23. Juli 1973 kommt es im Düsseldorfer Rheinstadion zum DFB-Pokalendspiel zwischen dem 1. FC Köln und und Borussia Mönchengladbach, das Duell Wolfgang Overath gegen Günter Netzer. Trainer Magka, der zuvor vergebens versucht hatte, Karten für das Endspiel zu bekommen, fragt in letzter Hoffnung im Bundeskanzleramt an, wo man fündig wird. Da der Bundeskanzler, kein Kenner und Freund des Spiels, weder Zeit noch Lust hat, sind seine Karten frei. Und so fahren Trainer Magka, sein Sohn und Matthias Brandt an diesem heißen Sommertag nach Düsseldorf. Kaum im Stadion angekommen, fragt Matthias: »Trainer, darf ich mir eine Fahne kaufen?« Der Junge kauft sich eine Fahne des 1. FC Köln. Das ist Protestakt, enttäuschte Liebe, denn eigentlich ist Matthias ein Anhänger von Mönchengladbach, doch den Wechsel seines Idols Netzer zu Real Madrid empfindet der Junge als Verrat. Dass deutsche Stars ins Ausland wechseln und damit ihre Karriere in der Nationalmannschaft »gefährden«, wird immer noch als »Verrat« aufgefasst, als Treulosigkeit und Söldnertum.
Die Gäste auf der Ehrentribüne sind nicht unbedingt entzückt über den schmalen Jungen, der die rote Fahne des 1. FC Köln schwenkt. Matthias Brandt wird Augenzeuge eines historischen Fußballereignisses. Das Königsbild dieses Spiels, es wird wieder und wieder gezeigt, gehört zum nationalen Erinnerungsgut. Es ist das letzte Spiel von Günter Netzer im Trikot von Borussia Mönchengladbach. Der Wechsel nach Madrid ist beschlossene Sache, weshalb der autoritäre Trainer Hennes Weisweiler seinen Star auf die Bank gesetzt hat. Ein unfassbarer Akt. Noch unerhörter ist, dass
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