Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Ereignis. Vielleicht hatte Rut ihren Mann dazu angehalten? Da sitzen sie also, Vater und Sohn. Natürlich geht schief, was schiefgehen kann, wenn man sich nicht auskennt mit diesem Kleber und diesen fiesen, kleinen Teilen, die offenbar nur geschaffen sind, um einen Erwachsenen, der weiß Gott Besseres und Wichtigeres zu tun hat, als dieses vermaledeite Flugzeug zusammenzubauen. Da fängt das Kind an, sich zu sorgen, weil dieses Trumm gleich platzt, und dafür steht es doch nicht, man will doch Spaß haben und spielen, aber anstatt dass das Kind sich gehenlassen kann im Spiel, entwickelt es Strategien, wie dem Vater zu helfen sei, wie man ihn aus diesem aussichtslosen Kampf mit den tausend kleinen Teilen befreit. Die Fürsorgepflicht wird umgekehrt, und die Familie wird zum Vati-Schoner, zur Hilfstruppe, zum Ruhekissen, zum Idealbild, zur Repräsentations-, zur Staatsfamilie. Wie grotesk das sein kann, schildert Lars in »Andenken«, wo er beschreibt, wie er mit dem Sohn von Nicolae Ceauşescu sprechen soll, der ein bizarres Herrschaftsverständnis an den Tag legt und sich gebärdet, als verhandele er mit dem Brandt-Sohn über die Zukunft der beiden Staaten.
Ein seltener Augenblick: Willy Brandt spielt mit Matthias.
[Peter Brandt/J. H. Darchinger]
Auch Matthias wird in politische Manöver, die sich vorpolitisch gebärden, sich familiär tarnen, aber tatsächlich von einiger politischer Tragweite sind, eingebunden, ohne dass er wissen kann, warum gerade er ausgewählt wird. In dem sehr stimmungsvollen und erhellenden Dokumentarfilm »Schattenväter«, in dem die Autorin Doris Metz die Lebensläufe von Pierre Guillaume und Matthias Brandt parallelisiert, schildert Matthias eine solche Szene, ein diplomatisches Manöver, das im Gewand eines Familienausfluges daherkommt, aber doch nichts anderes ist als der Versuch, zwei Freundfeinde im Schoß der Parteifamilie zusammenzuführen. Der Anlass soll so unspektakulär wie möglich sein, aber doch von Anfang an Intimität bezeugen. Willy Brandt und Herbert Wehner wollen zusammen eine Fahrradtour machen. Matthias wird dieses Ereignis ein paar Tage vorher bekanntgegeben. Er möge sich bereithalten, an Ort und Stelle sein. Ein Fahrrad wird angeschafft, denn der Kanzler besitzt keines. Der Sohn hat ihn vorher auch noch nie auf ein Fahrrad steigen sehen. Kann der das überhaupt? Am Tag X, dem Tag der großen Wiederannäherung, steigen Brandt und Wehner auf ihre Fahrräder, Matthias, das familiäre Bindeglied, der Stimmungsaufheller, fährt hinterdrein. Das Trio ist nicht weit gekommen, hat das weitläufige Grundstück noch nicht einmal verlassen, da gerät der unsichere Radfahrer Brandt in Schieflage und stürzt, wie in Zeitlupe kommt es dem beobachtenden Sohn vor. Brandt steht wieder mühsam auf, hat sich offensichtlich wehgetan, hebt das Fahrrad auf, stemmt es hoch und schmeißt es zornentbrannt weg, stößt voller Ingrimm den Fluch »Scheiße!« aus und geht dann ohne ein Wort zu sagen weg. Ab. Weg. Verschwunden. Wehner und Matthias bleiben sprachlos zurück. Das muss doch ein gefährdeter Vater sein? Der ist leicht aus der Bahn zu werfen, der kann, im Gegensatz zu Wehner, noch nicht einmal radfahren.
Ein aufmerksames, ein empfindsames Kind wird den doppelten familiären Riss bemerken: Die Kluft zwischen der inszenierten und der realen Familie und den widersprüchlich zerrissenen Vater, der das weite Land regiert, aber in diesem Haus herumirrt wie ein Ortsunkundiger. In »Schattenväter« hat Matthias Brandt seinen befremdeten Kinderblick auf den Vater so beschrieben: »Ich glaube, ich habe meinen Vater als so eine Art Behinderten erlebt, aus dem kindlichen Empfinden heraus, was ja vielleicht gar nicht so falsch war, als einen emotional Behinderten, mit dem man vorsichtig umzugehen hatte. Ich habe schon auch Angst gehabt vor dem, aber nicht weil ich dachte, der straft mich, das ist auch nie vorgekommen, der war sehr sorgsam und sanft mit mir, aber ich dachte, man kann so viel falsch machen.«
Das Abenteuer der Normalität, das erlebt Matthias Brandt vor allem beim Fußball an der Seite seines Freundes Andreas. Sind Fragen, die sich selbst beantworten, dumm? Oder gibt es gar keine Fragen, deren Antwort man vorwegnehmen kann?
Ich frage Matthias Brandt: »Ihr Vater hat Ihnen nicht zugeschaut beim Fußball? War der mal bei einem Spiel?« Das Tonband verzeichnet an dieser Stelle großes Gelächter.
»Nee, der war nie da, aber ich erinnere mich auch nicht, dass ich das
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