Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Brandt jedoch bat Wibke Bruhns auf den Venusberg und beschwerte sich bitterlich, der Artikel habe ihrem Mann sehr geschadet. Die SPD fuhr miserable Ergebnisse bei den Landtagswahlen ein, was auch dem innerparteilichen Streit mit den Jungsozialisten zugeschrieben wurde, die viele Stammwähler der SPD mit »kommunistisch« klingenden Parolen vergrätzten und verschreckten. Und nicht zuletzt war es die Steiner-Affäre, die der SPD, aber auch Willy Brandt zusetzte, denn plötzlich stand sein hohes moralisches Ansehen in Frage. Der CDU-Abgeordnete Julius Steiner hatte 1973 vor der Öffentlichkeit erklärt, beim Misstrauensvotum gegen Willy Brandt habe die SPD in Gestalt ihres Parlamentarischen Geschäftsführers Karl Wienand seine Stimme gekauft. Was wusste Brandt davon? War es möglich, dass diese Art des korrupten und kriminellen Machterhalts durch ihn gebilligt wurde?
Es rumorte, miese Stimmung allerorten. Besorgt wird im Bundeskanzleramt registriert, dass zunehmend bösartige und hämische Witze im Land umherlaufen. Man beauftragt einen Psychologen mit der Erforschung des Phänomens. Dabei kommt heraus, dass die Mehrzahl der spöttischen Pfeile schon während des »Dritten Reichs« und in der DDR abgeschossen, nun aber auf Brandt und seine Regierung umgemünzt wurden. Hier machten sich Frustration und Aggression Luft, und ein deutlicher Ansehensverlust des Bundeskanzlers wurde spürbar. Kostprobe: »Wann ist die Bundesrepublik wieder in Ordnung? – Wenn der Bundeskanzler Strauß am Grab von Willy Brandt die Witwe von Herbert Wehner fragt: ›Wer hat eigentlich Egon Bahr erschossen?‹«
Nein, wegen des Spions Günter Guillaume hätte Willy Brandt nicht aus diesem Haus auf dem Venusberg ausziehen müssen. Brandts Nimbus war erschöpft, seine Führungskraft erloschen. Er hatte nie geglaubt, man könne mit der Faust argumentieren und auf den Tisch hauen. Das beeindruckt doch nicht einmal den Tisch, pflegte er zu sagen, es schmerzt allenfalls die Hand. Hätte ein Mann wie er im Kreis der Familie Kraft schöpfen können? Zu Hause? Wo war der Kreis, wo war das Zuhause? Verbrachte er nicht viel mehr Zeit im Amt, in der Parteizentrale, auf Reisen? Unterwegs? Waren nicht das seine Kreise? Sein Büroleiter Reinhard Wilke, seit 1970 sein engster Mitarbeiter, macht sich Sorgen wie ein Familienangehöriger, wenn Brandt auf dem Venusberg ist. Er notiert 1973: »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ihm längere Aufenthalte allein auf dem Venusberg gar nicht guttun. Er liest wohl zu viel Zeitung und ärgert sich über jeden Mist. Er hat das Gefühl, alles laufe schlecht, in der Partei, in der Regierung, in der Öffentlichkeit usw. Seine Haut ist hauchdünn.« In einem nächtlichen Gespräch mit seinem Redenschreiber Harpprecht sagt Brandt: »Wir sind alle verrückt, aber es ist über das Maß.« Rut fühlt sich ausgeschlossen, abgehängt, ihr Mann schafft es nicht mehr, seine Probleme in ihre Welt, ihre Sprache, ihr Zuhause zu übersetzen.
Klaus Harpprecht hat in seinen Erinnerungen, die nur wenige familiäre Beobachtungen enthalten – Rut streift ein paar Mal unauffällig durch die Seiten, und die Söhne kommen so gut wie gar nicht vor –, eine Szene überliefert, die eigentümlich berührt, weil sie das lähmende Schweigen und die verlorene Intimität zwischen den Eheleuten festhält, diskret, aber doch vielsagend. Am 10. Januar 1974 feiert Rut Brandt ihren 54. Geburtstag. Es wird ein kleines Abendessen auf dem Venusberg ausgerichtet. Die Unterhaltung verläuft zunächst schleppend, der Alkohol befeuert die Zungen. Zu späterer Stunde entschließt sich die Gesellschaft, tanzen zu gehen. Man landet in einer Diskothek. Rut Brandt tanzt ausgelassen, hat sie immer gerne getan. Brandt steht am Rand, sieht zu, trinkt, unterhält sich. Dann nimmt er den Platz des Discjockeys ein, sichtlich angeschlagen. Rut tanzt weiter, und weil ihr Mann als Tanzpartner nicht zur Verfügung steht, fordert sie die Sicherheitsbeamten auf. »Später«, schreibt Harpprecht, »haben die jungen Leute sie artig gebeten.«
Willy Brandt war kein Tänzer.
Am 6. Mai tritt Willy Brandt vom Amt des Bundeskanzlers zurück. Am Morgen des Tages war er an das Bett seiner Frau getreten, sie schliefen schon lange getrennt, und hatte ihr gesagt, dass er nun zurücktreten werde. Rut hatte ihm geantwortet, dass sie das richtig finde, einer müsse schließlich die Verantwortung übernehmen. Dann ging er. Eine längere Aussprache fand nicht statt, aber Brandt
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