Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Fernseher, um der Verleihung zuzuschauen. Matthias hatte mit seiner Mutter verabredet, dass sie sich ganz doll am Ohr zieht, um ihm zu zeigen, dass sie an ihn denkt. Ja, und das hat sie dann auch getan. Der Rest der Zeremonie hat uns dann nicht so sehr interessiert.«
Das Haus auf dem Venusberg war ein widersprüchliches Haus, auch und gerade für ein Kind. Während Lars als junger Erwachsener die Gegebenheiten reflektieren konnte, musste Matthias die Situationen intuitiv erfassen. Vor den Begriffen, vor der formulierten Einsicht stand das Gefühl, ein Wittern der Atmosphäre, ein spürendes Begreifen. Der Vater war eine komische Macht, selten zu Hause, aber dennoch präsent. Die Gewalt, die von ihm ausging, war keine herkömmliche, ein strafender Vater war der nicht, aber eben doch eine unberechenbare Größe, einer, nach dem sich alle Kompassnadeln ausrichteten. Wer diesem Magnetfeld entkommen wollte, musste selbst was auf die Beine stellen. Manchmal schlich sich Matthias in das Arbeitszimmer seines Vaters und fuhr mit seinem Drehstuhl Karussell. Manchmal beobachtete er ihn morgens, wenn der Bundeskanzler schwerfällig in den Pool kletterte, um ein paar Bahnen zu schwimmen, ein rätselhaft schnaubendes Nilpferd. Manchmal kletterte das Kind in den geräumigen Kleiderschrank der Mutter, um sich allen Blicken zu entziehen, und still in einem Buch zu lesen. Dann wieder fand es sich in einer Traube von gesteuerter Aufmerksamkeit, Menschen, vom Vater magisch angezogen, die wollten ein Bild von diesem Haus und dieser Familie mit nach Hause tragen und taten die seltsamsten Dinge dafür.
Haben Kinder eigentlich eine Intimsphäre? Matthias wird in manchen zeitgenössischen Presseberichten zwar als »Clown« beschrieben, der vor der Kamera für jeden Schabernack zu haben ist, aber warum kleben dann an der Tür seines Kinderzimmer drei handgeschriebene Zettel, eigenhändig vom Neunjährigen angebracht: »Vorsicht Tretminen, Lebensgefahr!«, »Rauchen verboten!« und »Bitte nicht an die Tür lehnen!«. Solche Appelle notiert der Reporter gerne und teilt sie seinen Lesern mit, aber spricht aus ihnen nicht schon ein deutliches Abgrenzungsbedürfnis? Während Matthias diesen Wunsch, nicht ausgespäht zu werden, noch spielerisch oder unbewusst artikuliert, weil ihm noch nicht klar sein kann, was die Öffentlichkeit ist und was sie mit diesen Bildern macht, grenzt sich Lars mitunter sehr klar ab und verweigert es immer häufiger, eine Rolle in dem inszenierten Familienbild zu übernehmen. Matthias hingegen wird regelrecht »überfallen«, denn welchen Widerstand soll ein Kind schon bieten, und sind die Fragen nicht arg drollig und harmlos und ganz unpolitisch? Da fragt einer, wie es denn sei, mit »Vati« zu spielen und Matthias antwortet, ja, er spiele schon ganz gern mit dem »Vati«, aber mit »Mutti« sei es doch schon schöner, weil sie mehr bei der Sache sei als der Vater. Ob er denn wisse, was Demonstrationen seien, wird er von seiner Mutter im Hinblick auf Peters Aktivitäten gefragt. »Ja«, antwortet er, »auf die Straße gehen und Krach machen!« Das klingt hübsch, und morgen steht es in der Zeitung. Dass der Vater Gegner hat, ja vielleicht Feinde hat, teilt sich ihm schon mit. Wahlplakaten des Herausforderers Rainer Barzel streckt er die Zunge heraus, und als er einmal in den Nachrichten hört, sein Vater müsse sich gegen ein Misstrauensvotum zur Wehr setzen, ist er empört: »Wieso misstraut man Vati?« Seine Mutter versucht, es ihm zu erklären, weil der Junge wirklich aufgebracht ist.
Was ist das aber auch für ein seltsamer Vater? Ja, er ist unzweifelhaft der Vater, der Sachen macht, die andere Väter auch tun, etwa Zeitung lesen, herumbrummeln, sich vor den Fernseher hocken, knappe Dialoge mit der Frau führen, aber sonst? Wo ist da Normalität zu holen? Muss man den nicht wie ein rohes Ei behandeln? Mal ganz abgesehen davon, dass der Mann so eine Art Hauptwachtmeister oder Regierungschef oder König oder Nummer 1 oder das große Auge oder der Bundeskanzler von Deutschland ist, nein, der ist außerdem noch sehr sensibel, empfindsam, erschöpft, verschlossen wie ein Panzerschrank. Seine seelische Konstitution ist eben auch nicht die eines Dutzendmenschen. Wie also geht man als Kind mit so einem Trumm, mit so einem heiligen Supermonster um? Einmal, erzählt Matthias Brandt, habe der Vater sich die Zeit genommen, mit ihm ein Modellflugzeug zusammenzubauen. Ein sonderbar seltenes und deshalb gut zu erinnerndes
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