Die Familie Willy Brandt (German Edition)
sich der Rebell Netzer weigert, als ihn der Trainer in der Halbzeit auffordert, sich zur Einwechslung bereitzumachen. Die Sonne sticht, Weisweiler kocht, Netzer schmort. Die Trainer auf der Bank rauchen noch, Weisweiler zertritt wütend seine bis an den Filter heruntergebrannte Zigarette. Die Unfassbarkeit dieses Nachmittags, den Gipfel der Insubordination, leistet sich der langhaarige Netzer, als er sich in der fällig gewordenen Verlängerung selbst einwechselt, ohne erst den Trainer zu fragen. Nun wäre diese bodenlose Frechheit oder eben Kühnheit dennoch längst vergessen, wenn nicht ausgerechnet Netzer selbst das Siegtor geschossen hätte. 94. Minute. Netzer kommt im Mittelfeld an den Ball, schleppt ihn mit grimmiger Entschlossenheit nach vorne, passt zu Rainer Bohnhof, stürmt weiter, fordert, zieht den Rückpass auf sich und schmettert dann das Leder mit links in den linken oberen Winkel, der Torhüter zuckt nur mit der Achsel, und Netzer dreht ab, springt, dreht sich im schwerelosen Jubel.
Auf der Rückfahrt nach Bonn. Die Jungs glühen vor Begeisterung. Trainer Magka schwitzt Blut und Wasser. Die Leibwächter haben ihn aufgefordert, sich der Wagenkolonne des Bundespräsidenten anzuschließen. Der fährt vorneweg, in der Mitte Magka, hinten die Leibwächter für Matthias. Doch der Ford Consul des Trainers, 75 PS, kann mit den schweren Limousinen der Politiker und den Sportwagen der Beamten nicht mithalten, immer wieder reißt der Kontakt ab, und von hinten fahren die Sicherheitsbeamten dicht drängend auf. Als sie endlich den Venusberg erreichen, stöhnt der Trainer vor Erleichterung auf.
Matthias Brandt spielt nahezu vier Jahre Fußball im Verein, erst beim SSC Plittersdorf, dann beim höher spielenden FV Godesberg 08, wohin Trainer Magka seine Mannschaft nahezu vollständig mitnimmt.
Matthias Brandt, Zweiter von rechts, untere Reihe, im Trikot des FV Godesberg 08, Bonn 1975
[Roswita Brenke/privat]
Natürlich gibt es spektakuläre Ereignisse, die Matthias nur erlebt, weil er der Sohn des Bundeskanzlers ist. So besucht er mit seinem Freund Andreas die Olympischen Spiele 1972 in München, und 1974 fliegt er mit seinem Vater zum Endspiel der Fußballweltmeisterschaft. Nach dem Rücktritt des Bundeskanzlers gilt dann die größte Sorge des Sohnes auch der Frage, ob es bei dem lange geplanten Besuch der Weltmeisterschaft bleibt. Zwar rücken Vater und Sohn einige Plätze nach hinten, aber das macht dem Kind nichts aus. Weitaus kostbarer und prägender sind die Jahre auf dem Platz, das wöchentliche Training, die Auswärtsspiele, die Kommandos des Trainers, die Tore, die man schießt. Auch die Tagträume. Matthias kauft Fußballbücher und Fußballlexika und verbringt königliche Nachmittage in Gesellschaft eines großen Eisbechers, eines Fußballbuches und imaginärer sowie realer Traumtore. Die C-Jugend des FV Godesberg 08, Trikotfarbe gelb/blau, ist höchst erfolgreich, sie bleibt anderthalb Jahre ungeschlagen, wird mehrmals Meister.
Im Herbst 1975 meldet Rut Brandt ihren Sohn dennoch bei Trainer Magka ab. Matthias komme immer so furchtbar dreckig nach Hause, ob er denn nicht eine sauberere Sportart empfehlen könne, fragte Rut Brandt, aber die Schmutzverdrossenheit der Mutter wird kaum der einzige Grund für das Ende der Vereinskarriere gewesen sein.
Dass Matthias nie Starallüren gezeigt habe, sagt sein ehemaliger Trainer, habe man auch leicht feststellen können, als er 1974 plötzlich im »Aktuellen Sportstudio« im ZDF auftauchte, denn er habe niemandem etwas davon erzählt, weshalb er, sein Trainer, fast aus dem Sessel gefallen sei, »als da unser Matthias saß und unsere Farben hochhielt«. Man hatte den Kanzler in die Sportsendung eingeladen, und in seinem Umfeld entstand die Idee, ihm den fußballverrückten Sohn an die Seite zu stellen. Im Hinblick auf die Wählergunst schadet so ein Arrangement nie, zweitens braucht Brandt, der im Frühling 1974 schwer angeschlagen ist, bei diesem Ausflug ins leichte Fach einen Stimmungsaufheller an seiner Seite, und drittens kann er ja nicht selbst auf die Torwand schießen, was dann eben der Filius übernimmt und zweimal trifft, obwohl man ihn nur dreimal schießen lässt. Erstaunlich ist, wie abwesend der Kanzler bei diesem Auftritt innerlich wirkt, wie sein Sprechen routinemäßig weiterläuft, Floskel auf Floskel, während er in Gedanken doch ganz woanders spricht und arbeitet. Die heutige Medienöffentlichkeit, hypersensibilisiert und immer auf der
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