Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Handschrift, die mich in ihrem Ebenmaß an das beruhigend verlässliche Schlagen einer mahagonifarbenen Standuhr erinnert. Sie schreibt: »Lieber Herr Körner, ich bin überzeugt, dass ein gutes Gespräch nur entsteht, wenn zwischen den Gesprächspartnern kein unpersönliches Medium steht. In meiner langen Schulzeit habe ich nie ein telefonisches Elterngespräch geführt. Diesen Grundsatz möchte ich auch jetzt nicht aufgeben.« Ich finde, dass Frau Hinze hier leibhaftig auftritt, nämlich mit ihrer Haltung, mit der sie auch Matthias und seiner Mutter, die verlässlich zu den Elternsprechtagen kam, begegnete: diskret, offenes Visier, nicht um die Ecke. Dass den Jungen mitunter Leibwächter zur Schule fuhren, war im Unterricht schnell vergessen. Auf der Grundschule genoss Matthias Brandt weitgehend Normalität. Allerdings kam es vor, dass der Religionslehrer, Pfarrer Preuß, seinen Schüler triezte, ihn zur Strafe Kniebeugen machen ließ und dazu höhnisch sagte: »Dein Vater will doch ein Vorbild sein, dann zeig uns doch mal, dass du auch ein Vorbild bist, Brandt!« Peter Brandt war übrigens auf die gleiche Weise von einem Lehrer gedemütigt worden. Solchen Anfechtungen war Matthias Brandt bei seiner Klassenlehrerin nicht ausgesetzt, hier war er geborgen, weil sie eben keinen Außenminister- oder Kanzlersohn aus ihm machte. Sympathisch finde ich auch, dass Frau Hinze im Zeitalter der medialen Selbstauslieferung und tyrannischen Intimität sich trotz einer gewissen Hartnäckigkeit meinerseits nicht umstimmen ließ. Dennoch ließ sie mir brieflich etwas zukommen, was mich ungemein freute. Im Jahr 1971 veröffentlichte der zehnjährige Schüler Matthias Brandt folgenden Aufsatz in der Schülerzeitung der Waldschule Venusberg. Überschrift: »Burg Pimponello – Andreas und ich haben vor ein paar Tagen angefangen, in unserem Garten auf der Hundehütte eine Festung zu bauen. Zuerst mussten einmal alle Bretter von dem Dach herunter. Dann wurde angefangen. Andauernd musste Andreas von dem Dach herunterklettern, um mir die passenden Bretter zu reichen. Nun stützten wir die Bretter durch Ziegelsteine. Jetzt wollten wir prüfen, ob unser Bau auch hält. Den ersten Angriff auf unsere Festung machten wir also selbst. Wir kamen mit Steinen, Schneebällen und Stöcken und warfen sie gegen die Festung. Aber das hätten wir nicht tun sollen, denn sofort krachte die Festung zusammen. Dann stiegen wir sofort wieder auf das Dach und legten jetzt statt zwei Ziegelsteine fünf hinter die Bretter. Nun kam noch der alte Gartenschlauch dazu. Wir benutzten ihn als Walkie-Talkie, denn wer die Festung besuchen wollte, musste das ›Kennwort‹ sagen. Endlich war alles fertig. Wir spuckten beide auf die Bretter und sagten: Ich taufe dich auf den Namen Burg Pimponello! Das war ein tolles Abenteuer. Matthias Brandt IIIa.« Kinder bauen gerne Festungen. Auch die, die in einer Festung leben und tatsächlich von Walkie-Talkies aus Fleisch und Blut umgeben sind.
Matthias Brandt und Andreas Brenke verloren sich mit 12 oder 13 aus den Augen. Warum? Matthias wechselte die Schule, fand neue Freunde, Andreas erkrankte schwer an Diabetes, was ihn in seiner Entwicklung hemmte. So ging jeder seinen eigenen Weg. Andreas Brenke lebt und arbeitet heute in Spanien. Als ich ihn in Valencia auf dem Handy erreichte, feierte er gerade seinen fünfzigsten Geburtstag und freute sich unüberhörbar, gerade an diesem Tag einen Gruß vom fernen Venusberg zu erhalten. In zwei langen Gesprächen half er mir, die Kinder- und Jugendzeit mit Matthias anschaulich zu machen. Willy Brandt? Eine kaum vorhandene Größe, praktisch unsichtbar. Lars? Verborgen in seinem fernen Zimmer. Peter? Zaungast. Rut Brandt? »Sie versuchte immer, das Familienleben einer normalen Familie zu führen, obwohl das ja ganz augenscheinlich fast unmöglich war.« Sie war eine »schicke, aber doch nicht zu schicke Frau«. So, wie sie war, ging sie einkaufen, ohne in einer hochtrabenden Hülle oder Kleiderfestung zu stecken. Immer um Normalität bemüht. Liberal. Keine alles wissen wollende Herrscherin, keine Glucke. Aber doch offen und interessiert am Treiben der Kinder. Seine jüngere Schwester, die Rut Brandt stets an ein norwegisches Mädchen erinnert habe, bekam zu jedem Geburtstag ein schönes, teures Kleidchen von ihr geschenkt. »Als Willy Brandt der Friedensnobelpreis verliehen wurde, übernachtete Matthias bei uns, denn seine Mutter und Lars waren nach Oslo geflogen. Wir saßen vor dem
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