Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Suche nach unbefestigten und misslungenen Auftritten, würde an dieser Stelle sofort aufmerken, einhaken und dem Kanzler seine starre Maske vorhalten. Tatsächlich wirkt es nahezu unfreiwillig komisch oder vielleicht besser bestürzend, wie wenig sich Brandt hier auf Verstellungs- und Inszenierungskünste verlassen, wie ungeschützt man ihm beim Leiden zusehen kann. Inmitten von Menschen konnte sich Brandt in wuchernde Einsamkeiten verlieren. Da zogen ihn selbst die Kameras nicht aus diesem klebrig melancholischen Sumpf.
Ordnung muss sein: Der Bundeskanzler entschuldigt seinen Sohn.
[Matthias Brandt/privat]
Nein, wegen des Spions Günter Guillaume hätte Willy Brandt nicht aus diesem Haus auf dem Venusberg ausziehen müssen. Dieser war doch eher von zweitklassiger Güte und wurde nur berühmt, weil sein Chef es war. Ein Meisterspion war er nicht, und das meiste, was seine Auftraggeber durch ihn erfuhren, hätten sie wohl auch der Zeitung entnehmen können. Brandts Autorität innerhalb der Regierung verfiel schleichend, sein Charisma, ohnehin eine schwer zu fassende Größe, reichte nicht mehr aus, um die divergierenden Kräfte innerhalb der SPD zu disziplinieren. Und obwohl Willy Brandts Rücktritt sehr gut in Herbert Wehners Machtkalkül passte, weil der Zuchtmeister der Fraktion schon lange nichts mehr von dessen schlaffer Amtsausübung hielt, kann man ihn doch wohl schwer als den Hauptverursacher und Sündenbock betrachten oder sagen, Brandt sei über eine Intrige Wehners gestürzt. Brandts Charisma hatte mit der Verleihung des Friedensnobelpreises und der gewonnenen »Willy-Wahl« 1972 alles erreicht, was zu erreichen war, im komplexen Regierungsalltag wurde diese charismatische Macht- und Möglichkeitshülle zerrieben, zerfetzt. Es war ein schleichender Erosionsprozess, der im Herbst 1972 einsetzte, als Brandt im Krankenhaus lag. Die Fehlbesetzungen im Kabinett waren nicht wieder zu korrigieren. Die Disziplin in der Partei und im Regierungsapparat ließ nach, man stritt im Kanzleramt um Kompetenzen, laufend sickerten Indiskretionen an die Presse durch, und die Autorität des Kanzlers verfiel zusehends.
Klaus Harpprecht, einer seiner engsten Berater in diesen Monaten, hält in seinem Tagebuch fest: »Der Autoritätsverfall ist schon daran zu sehen, dass in den Sitzungen im kleinen Kreis gelegentlich alles durcheinanderredet, bis er durch ein ordnendes Wort eingreift. Vor ein paar Monaten wäre das nicht passiert.« Ja, auch Herbert Wehner stellt Brandts Autorität in Frage, und mit Helmut Schmidt steht ein machthungriger und bissiger Aspirant als potentieller Nachfolger bereit, aber es gibt viele andere Gründe, die Brandt in diesen Monaten verloren aussehen lassen. Die Ölkrise 1973 und die damit verbundenen vier autofreien Sonntage pflanzen der Bevölkerung ein Krisenempfinden ein, das sich noch steigert, als im Januar 1974 die neuen Arbeitsmarktzahlen bekannt werden: demnach sind in der Bundesrepublik 620000 Menschen arbeitslos. Diese Zahlen schockieren die Bundesbürger, denn noch nie hat das Land eine derart hohe Arbeitslosenquote verkraften müssen. In zahlreichen Branchen wird gestreikt, der Bummelstreik der Fluglotsen kostet Nerven und Geld, und als dann auch noch die Müllabfuhr drei Tage lang die Arbeit verweigert und sich der Dreck auf den Straßen stapelt, scheint der Untergang des Landes unabwendbar. Heinz Kluncker, der Chef der machtvollen Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), der Herr über die Mülltonnen, Heinz Kluncker, der so aussah wie er hieß, ein kraftvoller Bulldozer, setzte gegen Brandts erklärten Willen einen zweistelligen (elf Prozent) Lohnabschluss durch. Der Bundeskanzler stand wie ein schwaches Männlein im Wind.
Die linksliberale Presse, die Brandts Aufstieg euphorisch begleitet und ihn auf den Schild gehoben hatte, schrieb ihn nun systematisch in den Abgrund. Hinter vorgehaltener Hand sprach man auch in der Partei von »Willy Wolke«, dem der Friedensnobelpreis zu Kopf gestiegen sei, während ihn das harte Tagesgeschäft kaum noch kümmere. Wibke Bruhns hatte im »Stern« ein schneidendes Psychogramm des immer einsamer werdenden Mannes geschrieben, das in der Partei für große Unruhe sorgte und Brandt auch persönlich traf. Es gipfelte in Sätzen wie »Willy Brandt hat viele Freunde. Ob er einen Freund hat, ist nicht bekannt«. Brandt beklagte sich bei der Autorin, die wie wenige andere einen privilegierten Zugang zu ihm genoss, mit keinem Wort, Rut
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