Die Familie Willy Brandt (German Edition)
grundsätzlich gesondertes Problem, sofern es um Aussage und Wiedergabe realer Stoffe geht.«
Die Wahrheit liegt bekanntlich an der Oberfläche? Wie ist das gemeint? Lars Brandt meint hier die Oberfläche von Gemälden, wo Sinn und Sinnlichkeit in Farbmischung und Auftrag dicht beieinanderliegen. Es geht also um Leinwand-Abenteuer, denn hier, auf der Oberfläche, stoßen innere und äußere Bilder aufeinander. Die Wahrheit ist also nicht oberflächlich, sondern sie sucht die Oberfläche, um erst hier ihren Ausdruck zu finden. Und ich denke, das gilt für Leinwände wie für Häute, die wir auch als eine Leinwand verstehen können, auf der innere und äußere Lebensfilme sich begegnen. Gerade wer in einer öffentlichen Familie lebt, muss sich gefallen lassen, auch und gerade wenn er oder sie das Private sucht, dass wir, die nicht dazugehören, dazugehören wollen, weil wir die Leinwand Brandt bemalen oder beschriften. Ein Politiker wie Brandt lebt geradezu von der kollektiven Energie, die auf seine Leinwand fließt, und auch ein Schauspieler wie Matthias Brandt bietet uns seine Haut als Projektionsfläche an. Ein Schauspieler fährt schließlich aus der eigenen Haut und siedelt in einer fremden, der Schauspieler ist der Hautwechsler par excellence, er lebt zwischen den Häuten. In diesem Sinne schrieb Egon Friedell über den Jahrhundertschauspieler Josef Kainz: »Auch dieser war ja fast unerreicht, in der Kunst, in jeder Rolle, ja in jeder Szene eine andere Haut zu zeigen, durch den ununterbrochenen Wechsel der Farben und Lichter das Auge zu überwältigen.« Lars Brandt trägt seine Haut vermittelter zu Markte, er schreibt und malt und lässt Metaphern von seinen Innenwelten und Familienwegen sprechen. Wenn die Wahrheit an der Oberfläche liegt, dann ist für den Künstler schon die Wahl des Materials, auf dem er malt, zeichnet oder druckt, eine Suche nach der Wahrheit, denn das Papier, die Leinwand, der Karton oder was auch immer, sind Häute der Wahrhaftigkeit, und ihre Beschaffenheit, ihre Oberfläche teilt sich dem Bild, das auf ihnen entsteht, unauslöschbar mit. In diesem Sinne betrachte ich eine Zeichnung von Lars Brandt auch als Hautstück, dem er seine Empfindung und seinen Blick einschreibt, einritzt. Die Bleistiftzeichnung findet sich in Lars Brandts Buch »Andenken« und zeigt Willy Brandt. Ist das Willy Brandt? Die mit wenigen Strichen erschaffene Figur erinnert an Mickymaus mit großen Ohren, an einen Zyklopen mit nur einem leeren Auge, an Tintin, den rasenden Reporter, der mit seinem Hund um die Welt jettet und zahlreiche Schurken zur Strecke bringt. Auch einen Totenschädel sieht man, einen riesigen Mund, ein Wesen aus Comic und 1001 Nacht. Und schließlich das Papier: Lars Brandt hat es in Lissabon gekauft, in einem Fischladen, der ihm jedoch wie eine wunderliche Bibliothek vorkam, da die erstarrten Dörrfische wie Bücher in den Regalen lagen. Und auf diesem bräunlichen Fischpapier zeichnete der Sohn den sterbenden Vater, »es war meine Art, darüber nachzudenken, was geschah«.
Für mich vermählen sich in dieser Zeichnung die Zeiten, meine Comic-Assoziationen beruhen auf dem Gedanken an den großen Comic-Freund Lars Brandt. Sein Vater hat ihm oft die neuesten Comics mitgebracht, etwa Mickymaus-Hefte aus Norwegen. Im Angesicht des sterbenden Vaters reist Lars Brandt in alte Zeiten, begeht seine Erinnerungsräume und lässt aus dem Vater auf dem Papier ein Wesen werden, das in seinen knappen, kargen Umrissen durchlässig ist für alle willkürlichen oder unwillkürlichen Fundstücke aus dem Museum der Erinnerung. Da stirbt einer, aber dabei verwandelt er sich wieder in den Jungen, der sein Sohn war, und in den Jungen, der er selbst einmal war in einem Gebiet außerhalb der Reichweite des Sohnes. Fischpapier? Sind Vater und Sohn nicht gerade durch das Angeln miteinander verbunden? Antizipiert der Sohn schon die nahende Erstarrung? Keinen Strich zu viel, hier sollen Lücken sprechen. Diese wunderliche Zeichnung ist für mich eine Begegnungsstätte zwischen Vater und Sohn, Erkundungsfahrt in Hautgebiete.
Als Historiker ist Peter, der erstgeborene Sohn, auf besonders enge Tuch- und Hautfühlung mit dem Vater gegangen, denn für Willy Brandt wäre dieser Beruf ein alternativer Lebensweg gewesen, und auch als junger Mann hat sich Peter auf das gefährlichste Identitätsspiel mit dem Vater eingelassen, da er riskierte, dass man ihn wegen seines politischen Engagements als Lebensweg-Kopisten ansah. Es
Weitere Kostenlose Bücher