Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Differenz ist daher nicht als individuelles Defizit anzukreiden und verfehlt den Mann und seine Zeit. Aufschlussreicher finde ich, was Peter Brandt im weiteren Verlauf des Gesprächs sagt. Auf die Frage, ob es ein Vor- oder Nachteil gewesen sei, Willy Brandt zum Vater zu haben, antwortet er: »Ich kann mich an kein Ereignis im Leben erinnern, in dem es mir wirklich geholfen hätte«, entgegnet Brandt. »Eine Belastung war es früher schon. Was habe ich zeitweise geschwitzt, wenn man mich als Sohn Willy Brandts vorstellte.« Peter Brandt meint dieses Schwitzen nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich. Der Vater treibt dem Sohn Schweißperlen auf die Haut, weil er sich durch seine Abkunft unmittelbar mit ihm verglichen sieht. Eine »Lichtgestalt« wie Brandt wirft nicht nur gewaltige Schatten, die das Licht schluckt, das den Kindern fehlt, sie bündelt das Licht auch wie ein Brennglas und schickt sengende Strahlen, die die Haut beschädigen und verletzen. Dabei ist es keineswegs der Vater selbst, der die Strahlen wirft und schickt, sondern sein Publikum (ganz gleich ob Freund, Feind oder Fan), das die Ikone wie einen übermächtigen Scheinwerfer ausrichtet und mit diesem gebündelten Spot (dem Verfolger) auf die Kinder zielt. Nein, sagt Peter Brandt, zu dem Thema Haut falle ihm im Zusammenhang mit der Familie nicht wirklich etwas ein. Er habe früher als »Bleichgesicht« gegolten, ein blasses Kind sei er gewesen, obwohl er als Kind immer Indianer gespielt habe und somit eine »Rothaut« gewesen sei. Was Peter Brandt sozusagen subkutan mit seinem Vater verbindet, ist die deutsche Frage, die Frage nach der Nation. Er ist in die »gesamtdeutsche Haut« geschlüpft, von der sein Vater gesprochen hat. Zwar findet sich in seinen publizistischen Texten kein ausgesprochener Haut-Metaphern-Pfad, aber das mag zunächst daran liegen, dass Peter Brandt, der Historiker, selbst wenn er als politischer Publizist agiert, um analytische Termini bemüht ist und nicht den eigenen Leib wie sein Vater als Redner zum Sprechen bringen muss. Doch – anders als Lars und Matthias, die in den entscheidenden Jahren in Westdeutschland sozialisiert wurden und den Osten kaum entbehrten – brannte Peter das Thema Teilung wie seinem Vater auf und unter der Haut. Im Jahr 1993 beginnt Peter Brandt einen Text mit dem Titel »Politischer Lebenslauf« mit dem erstaunlichen Satz: »Ich habe seit meiner Geburt mit der Deutschen Frage gelebt, seit frühester Jugend auch bewusst.« Tatsächlich hat er innerhalb der Linken eine Menge verbale Prügel dafür einstecken müssen, dass er das Thema der Nation und die Sehnsucht nach einem wiedervereinigten Land nicht der politischen Rechten überlassen wollte, sondern eine »Vaterlandsliebe« von links probierte.
Was Lars Brandt zu dem Thema zu sagen hat, sagt er schriftlich oder bildlich, mit dem Stift oder dem Pinsel. Er codiert sein Empfinden, ich muss ihn auf seinen poetischen Inseln besuchen, da wird er Empfindungen nach außen tragen und von seiner Haut sprechen. Es gibt in »Andenken« zwei Stellen, die von einer taktilen Beziehungsgeschichte sprechen, zwei Episoden, die von Wünschen und Entbehrungen erzählen mögen. »Es war an einem Sonntagmorgen gewesen, als ich mit fünf oder sechs Jahren übermütig ins elterliche Schlafzimmer hüpfte (was selten vorkam). Ich weiß nicht mehr, was ich dort vorhatte, Guten Morgen sagen vermutlich. V. schlief noch. Unter der Decke schaute sein großer Zeh hervor, und ich konnte nicht widerstehen, ihn versuchsweise zu kitzeln. V. schreckte auf und blickte mich eisig an, so wie jetzt hier.« Das Kind reißt den Erwachsenen aus dem Schlaf, wird zum Eindringling, zerreißt seine Schlafhülle. Der eisige Blick stößt zurück, die Kontaktaufnahme ist gescheitert. Das zweite Fundstück scheint prima vista in keiner engeren Beziehung zur sonntäglichen Zehenkitzelei zu stehen. Eine andere Szene spielt vor dem Hintergrund eines misslungenen Norwegen-Urlaubs. Die Wochen sind verregnet, es ist kalt, und die Fische beißen nicht an. Vater und Sohn sitzen in einem Ruderboot, jeder auf seiner Seite, und der spiegelnde See gibt nichts preis. Willy Brandt wird immer schweigsamer, verschlossener, versinkt in sich, Haut als Zelle. Da geschieht es: »Ich weiß auch nicht, wie es geschah, seit wann war ich ungeschickt im Umgang mit der Wurfangel? Mein Blinker flog in die entgegengesetzte Richtung – dahin, wo V. saß. Haarscharf wischte der Drillingshaken an seinem linken Auge
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