Die Familie Willy Brandt (German Edition)
betrachtet den »Eisernen Vorhang« am 20. November 1960 in Hessen nahe Philippsthal.
[picture alliance/dpa]
Die deutsche Frage, die Frage nach der Überwindung der deutschen Teilung, war eine Lebensaufgabe für Willy Brandt, sie kroch ihm unter die Haut, sie nagte an ihm, biss an ihm herum, sie quälte ihn, sie richtete sich auf Dauer in ihm ein, denn niemand hatte das Trennende stärker erfahren als der heimgekehrte Exilant, der als Regierender Bürgermeister von Berlin all die Dramen um und an der Mauer hautnah miterlebt hatte. Das ließ sich nicht ausradieren. Als er am Abend des 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus spricht, die Masse ruft »Willy, Willy«, die Stimmung ist aufgeheizt, brandet frenetischer Jubel auf, als ihm das Wort erteilt wird. Er beginnt seine Rede mit der folgenden Geschichte: »Mich hat auch das Bild angerührt von dem Polizisten auf unserer Seite, der rübergeht zu seinem Kollegen drüben und sagt: ›Jetzt haben wir uns so viele Wochen, vielleicht Monate auf Abstand gesehen, ich möchte Ihnen heute mal die Hand geben.‹ Das ist die richtige Art, sich dem Problem zu nähern: einander die Hand geben.« Dieser Berührungsappell findet sich in vielen Reden in diesen euphorischen Monaten wieder, zusammenrücken, einander die Hände reichen. Und schließlich wünscht sich Willy Brandt am 4. Oktober 1990 bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagssitzung im Berliner Reichstag, »dass ohne entstellende Narben zusammenwächst, was zusammengehört«. Und pocht aufs Pult dabei.
Die Haut ist eine Politikerin, könnte man sagen, denn sie vermittelt zu einem erheblichen Teil unsere Beziehungen zur Umwelt und ist mit etwa zwei Quadratmeter Fläche unser größtes Sinnesorgan. Schon in den sechziger Jahren besaß die Familie Brandt eine Höhensonne, aber wer von den Eltern sich ihrer vornehmlich bedient, ist nicht überliefert, nur dass sich eines Tages eines der norwegischen Kindermädchen das Gesicht völlig verbrannte, weil es das Gerät, wie Brandt an seine Frau schreibt, »unsachgemäß« gebraucht hatte. Rut Messler ist der Auffassung, dass Willy Brandt die Höhensonne benutzt haben muss, denn Rut Brandt habe die Sonne eher gemieden, wohlwissend, dass Sonnenlicht eine frühzeitige Hautalterung bewirkt. Es wäre plausibel, dass eher Willy Brandt der Höhensonnenkunde ist, denn er betete die Sonne an, sofern er die Zeit dazu fand. Peter Brandt jedoch hält es für ausgeschlossen, dass sich sein Vater vor die Strahlenflut gesetzt habe, denn er »bekam Bräune fast von selbst«. Der »strahlende Sonnenschein«, den Willy Brandt suchte, sich erhoffte oder seiner Frau als Seelenmedizin empfahl, war in den Briefen an Rut ein verlässlich wiederkehrender Ausdruck. Half die Sonne nicht gegen Depressionen, verlieh sie dem zunehmend auch im Fernsehen sichtbaren Politiker nicht einen Schutzfilm, eine Vitalitätsmaske? Der Dialog, den der Politiker Brandt mit seiner Haut pflegte, erscheint mir lebendig und vielschichtig, Brandt ist, auch im Vergleich mit anderen Politikern, in der öffentlichen Arena sehr mit dem eigenen Leib beschäftigt, so als nähme er permanent Fühlung mit dem Draußen auf, der Stimmung im Saal, den Energien der Masse, den Falten der Zeit. Die Haut des Politikers wird zum Atmosphärenthermometer, zum Gefühlsbarometer, zum Spannungs- und Erschütterungsseismographen, zum Frühwarnsystem, das die Angriffe des Gegners antizipiert, bevor der sie ausgesprochen hat. Muss, frage ich mich, die private Haut darunter leiden, wenn einer seine politische Haut zu so großer Fühl- und Ausdrucksstärke steigert? Oder wird die Haut taub gegenüber privaten Bedürfnissen, weil sie unablässig damit beschäftigt ist, die politischen Signale und Zeichen zu verarbeiten?
In einem Interview mit dem Journalisten Jacques Schuster erinnerte sich Peter Brandt 2011 an den fehlenden körperlichen Kontakt mit seinem Vater: »Eines der Kinder einmal in den Arm zu nehmen, das ist ihm nicht eingefallen. Ich habe meinem Vater zeitlebens nur die Hand gegeben. Die Vorstellung, dass man den Vater küsst, war mir fremd.« Diese Körpererfahrung isoliert Peter Brandt jedoch kaum von anderen Kindern seiner Generation, und sie beschreibt auch nur undeutlich den Vater Willy Brandt im Besonderen, der wie die meisten Väter dieser Jahrgänge ein körperlich distanzierter und ausdrucksunfähiger Vater war, kein Kreißsaalgefährte, kein Windelwechsler, kein Spielplatzkamerad und Lego-Genosse. Diese historische
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