Die Familie Willy Brandt (German Edition)
vorbei. Erstaunt sah er zu mir hinüber, auf seiner Wange zwei scharfe Linien und ein paar kleine rote Perlen.« Natürlich wirft der Sohn die Angel nach den Fischen aus, aber der Blinker fliegt haarscharf am Auge des Vaters vorbei, und der Drillingshaken ritzt die Wange. Ich lese die Stelle als unbewussten Appell, als Auskunftsersuchen, auch als Bitte. Der eisige Blick des Vaters wird in dieser Passage in einen erstaunten Blick verwandelt. Der Drillingshaken verletzt die Hautzelle, Blut tritt hervor, und es kommt Leben in den scheinbar leblosen Mann. Wie das Blut auf der Wange Willy Brandts aussah, wissen wir nicht, aber der Schriftsteller Lars Brandt greift über 40 Jahre später zu dem Bild der »Perle«. Der Augenblick ist ihm unvergesslich, die Auster gibt eine Perle preis, weil der Sohn unvermutet, unversehens und unbeabsichtigt eine Grenze verletzt, die Grenze zwischen Vater und Sohn, innen und außen, Schein und Sein. Ein Erzähler ist niemals nur ein Erzähler; wenn er anfängt zu erzählen, beugen sich viele Leben über seine Schulter und heben ihre Stimme, insofern ist der Erzähler des zweiten Romans von Lars Brandt nicht umstandslos als Lars Brandt zu betrachten, aber die beiden werden sich und ihre Familie aus Stimme und Stoff gut kennen. Der Roman »Alles Zirkus« kann auch als Hautstudie gelesen werden, denn er birst vor Hautbeschreibungen, Haut-Metaphern, Haut-Hautverletzungen, Haut-Begehungen, Haut-Beziehungen, Haut-Verkleidungen und Haut-Erkundungen.
Walter und Trixi sind ein Paar, das seit vielen, vielen Jahren zusammenlebt. Er arbeitet in der Werbebranche, sie dreht Dokumentarfilme. Walter fühlt sich oft genug nur noch als »mäßig willkommener Gast in der eigenen Haut«. Morgens steht er vor dem Spiegel und fügt sich, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, kleine Schnitte zu. Ein Ritzer auf der Suche nach … Es perlt. Er steckt in einer »tauben Haut«. Das Paar hat sich weit voneinander entfernt, und Walter »würde viel darum geben, jetzt Trixis Haut zu berühren«, und sehnt sich »nach dem Duft ihrer Haut«. Trixi hingegen treiben andere Hautwünsche um. Ihr Blick fällt auf ein Ladenschaufenster, in dem erotische Damenunterwäsche präsentiert wird: »Latex. Feines Nappaleder mit Schnürungen, sogar die Ösen teilweise hauchdünn bezogen. Reißverschlüsse und Schnallen aus Metall.« Auch im Mittelpunkt ihrer künstlerischen Interessen steht ein Bild, das als Haut-Panorama betrachtet werden kann, als Hautgemälde, in dem jemand seine Haut zugleich entblößt und verbirgt und die Phantasie des Betrachters gerade dadurch gereizt wird, dass die im Bild befindlichen Figuren mehr sehen als wir, die das Bild von außen betrachten, und die Frau, die uns ihr nacktes, pralles Gesäß zuwendet, aber uns ihr Gesicht für immer vorenthält. Das Bild stammt von Richard Lindner, es heißt »The meeting« und wird von Trixi und Lars Brandt gleichermaßen geschätzt. Es ist ein Kosmos aus Farbe, Form und Fleisch, jeder steckt in einer andersfarbigen, andersgearbeiteten und anderssprechenden Haut. Im Zentrum des Bildes steht eine dralle Frau, die dem Betrachter den Rücken kehrt, sie steckt in einer auffällig bunten Korsage, deren Rückenmuster zwischen den Bedeutungen changiert: Katze, Kelch, Engel, Fledermaus, Sphinx, verschnürte Vagina. Was ein Bild wie dieses erzählt, ist nicht erschöpfend zu sagen, weil es von untergründigen Assoziationen und persönlichen Mythen berichtet. Mir fällt auf, dass die Frau, die sich zeigt, nicht gesehen wird. Alle im Bild befindlichen Figuren verweigern der Frau ihren Blick, schauen in unzugängliche Ferne, ins Leere. Wir jedoch bohren unseren Blick in den Rücken der Frau und finden nur Rätsel. Ist das eine Flaschenpost? Zeig dich, wie du willst, zeig deine Haut, wir erlösen dich nicht!
Ich bat Lars Brandt per E-Mail, ob er etwas beitragen könne zum Thema Haut und Familie. Auf meine E-Mails antwortete er am nächsten Tag: »Mit Zurückhaltung beantworte ich Ihre letzten drei aufeinanderfolgenden Mails, weil ich nicht leichtfertig in Ihren Gedankengang eingreifen und ihn vielleicht verkürzen möchte. Nur so viel: Sie machen sich Gedanken über die Haut – was sie bedeutet und wie man sie darstellt. Die Wahrheit liegt bekanntlich an der Oberfläche. Jedenfalls sehen manche Künstler das so, und zu denen rechne ich mich. Dahinter steht ein erkenntnistheoretisches Interesse – oder vielmehr ein erkenntnispraktisches. Die Haut bietet da eigentlich kein
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