Die Familie Willy Brandt (German Edition)
betrachtete den mal jüngeren, mal älteren Mann hinter oder unter oder mit diesem Bart. Stand der Bart für etwas? War er ein Zeichen? War er eine Grenzmarkierung oder tatsächlich eine Referenz an einen Politiker wie Trotzki, dessen Lebensweg und Theorie für Peter Brandt lange Zeit eine wichtige Orientierungsfunktion besaßen? War der Bart nur ein modisches Statement oder war er das haarige Identitätsmerkmal eines Achtundsechzigers, der sich damit absetzte von den bürgerlich glattrasierten Gesichtsfassaden? Führt das Nachdenken über den Bart eines Mannes zu ihm hin oder von ihm weg? Willy Brandt, das kann als gesichert gelten, war kein Bartträger. Ich betrachtete die zahlreichen Fotos, die mir Peter Brandt zur Verfügung gestellt hatte. Der Bart war immer dabei. Durch Jahrzehnte. Insbesondere ein schwarzweißes Foto erregte meine Aufmerksamkeit. Da sitzt ein nicht mehr ganz junger Mann am Schreibtisch. Er mag Mitte dreißig sein. Im Rücken die Bücherwand, die nicht auf Repräsentation aus ist, sondern auf Welterkundung und Wissensfundierung. Auf dem Boden stapeln sich Bücher und Manuskripte. Er sieht müde aus, erschöpft. Der Schreibtisch ist aufgeräumt. Eine Kanne Tee steht da, Tipp-Ex gleich mehrfach, ein Klebe-Stift, eine Briefwaage. Es ist die Ära vor dem Computer. Sitzt da nicht ein bleicher Revolutionär? Ja, der steht mit beiden Beinen auf dem Boden der Verfassung, aber dennoch muss die Gesellschaft, so wie sie ist, nicht hingenommen werden. So wie er da sitzt, erinnert mich Peter Brandt an den jungen Friedrich Engels, Lenin und ja, auch Trotzki. War der Bart für sie nicht auch ein politisches Zeichen, mit dem sie Volksnähe demonstrierten? Der Adelige war ein glattrasiertes, gepudert-parfümiertes Wesen, der Revolutionär trug Bart. Peter Brandt, bleich und bücherbeflissen, sieht aus wie ein Mann, der es gewohnt ist, Manifeste zu schreiben, die dazu aufrufen, auf die Barrikaden zu gehen, den Palästen Krieg und den Hütten Frieden zu wünschen. Nein, ein Krieger ist er nicht, aber seinen Frieden hat er mit dieser erstarrten Republik noch nicht gemacht.
Peter Brandt am Schreibtisch, Mitte der achtziger Jahre.
[Peter Brandt/Fotoagentur Lichtblick, Sabine Sauer, Detlef Konnerth]
Ich reise noch mal zurück in die Zeit, zurück in die Zeit vor diesem Moment, den das Foto festhielt.
Woher kommt dieser erschöpfte junge Mann am Schreibtisch? Was für Häutungen liegen hinter ihm?
»Ja«, sagt die Archivarin des Archivs »APO und soziale Bewegungen«, kurz »APO-Archiv«, »Sie können vorbeikommen, wir haben Bestände zu Peter Brandt.« Das »APO-Archiv« ist erfrischend anders. Es ist unbürokratisch, es ist spontan, es ist nicht autoritär, es schüchtert nicht ein. Mit der lebhaften Archivarin entspann sich sofort ein munteres Gespräch. Peter Brandt ist ein asketischer, ein preußischer Mensch, er hat nie gekifft, hat es auch nie probiert. Für ihn war die achtundsechziger Bewegung kein hedonistisches Konzept, er musste sich nicht von einer lebens- und lustfeindlichen kleinbürgerlichen Enge befreien, er musste auch nicht gegen einen Nazi-Vater rebellieren. Der Protest gegen den Vietnam-Krieg der USA verband ihn am stärksten mit der Revolte der Achtundsechziger. Darüber hinaus suchte er Geschichtsgewissheit, Gegenwartskritik, ein gerechteres politisches System, Zukunftswege, die Gnade der Theorie.
Ein österreichischer Reporter, der die Familie des Berliner Bürgermeisters Brandt interviewte, fragte den zwölfjährigen Peter: »Wer kann besser Geschichte, du oder dein Vater?« Peter antwortete trocken, aber auch selbstbewusst: »Ach, ich denke, von 1789 an jedenfalls er.« Der Sohn fühlt sich früh angestachelt, den Vater als »Historiker« einzuholen, zu überholen. Der Beifall der Mutter ist ihm sicher. Rut Brandt ist stolz auf das vielwissende Kind, das ihr Geschichtsvorträge hält und für sie sogar eine eigene Weltgeschichte verfasst, damit sie auch mal Bescheid weiß, was so los war in den letzten paar hundert Jahren. Als die Archivarin im »APO-Archiv« einen Aktenwagen heranschiebt, auf dem sich die Aktenordner und Dokumenten-Boxen türmen, muss ich an einen Besuch bei Brandts Hausmädchen Ursula Schurig denken. Zusammen mit Peter Brandt besuchte ich sie in Berlin-Spandau. Sie hat ein kleines Kistchen hervorgezogen, in dem sie alte Fotos, Briefe und Postkarten aufbewahrt hatte. Es hat sich auch ein Foto aus dem Jahr 1960 darunter befunden, als Familie Brandt mit ihren Nachbarn
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