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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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Verbindungsglied zwischen Führern und Basis das Rückgrat jeder Arbeiterorganisation bildet. Revolutionäre Phasen zeichnen sich dadurch aus, dass die breiten, normalerweise mehr oder wenigen passiven, werktätigen Schichten für die Durchsetzung unmittelbarer Interessen aktiviert und allgemein politisiert werden. Erst dadurch erhalten die Organisationskader der Arbeiterbewegung – ergänzt durch neue Elemente – ihr gesellschaftliches Gewicht. Gerade dieses Merkmal einer revolutionären oder vorrevolutionären Situation fehlte 1945 in Deutschland.« Man kann diese Passage auch als Bilanz des »Roten Jahrzehnts« von 1966 bis 1976 lesen, das nun hinter Brandt lag. Er hatte sich nun zu verabschieden von der Vorstellung, dass in der Bundesrepublik eine revolutionäre Situation entfacht werden könne, selbst von einer »vorrevolutionären Situation« war man Mitte der siebziger Jahre weit entfernt. Die Illusionen waren ausgeglüht, eine Republik mit einer radikal- oder rätedemokratischen Struktur war eine Utopie außer Dienst. Und die zersplitterte Linke hatte sich zu Teilen auf den langen Marsch durch die Institutionen begeben, der die Linke mehr verändert als die Institutionen.
    Dass das Leben ein machtvoller Schleifstein ist, erfuhr Peter Brandt nicht erst 1975, als er sich an der Freien Universität Berlin auf eine Assistenten-Stelle im öffentlichen Dienst bewarb und daraufhin auf seine Verfassungstreue geprüft wurde. Da ein Bericht des Verfassungsschutzes bis 1971 über ihn vorliegt, macht nun ausgerechnet Peter Brandt mit dem sogenannten »Radikalenerlass« Bekanntschaft, den sein Vater politisch mitverantwortet. Im Januar 1972 hatten die Ministerpräsidenten der Länder unter Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt die »Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst« beschlossen. Diese sahen vor, dass ein Bewerber auf eine Stelle im öffentlichen Dienst nicht eingestellt wird, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt oder einer verfassungsfeindlichen Organisation angehört. Daraufhin wurden bis 1976 fast eine halbe Million Bewerber auf ihre Verfassungstreue überprüft; mancher hoffnungsvolle Berufs- und Lebensweg wurde durch hysterischen Bürokratismus zerschlagen. Im Beisein seines Anwalts wurde Peter Brandt angehört und stellte sich kritischen Fragen. Eine Gratwanderung. Sich treu bleiben, aber dennoch alle Klippen umschiffen. Im Hinblick auf seine radikalen Positionen sagte Peter Brandt bei der Anhörung am 17. Juli 1975: »Einige Dinge sehe ich heute wesentlich anders als damals. Ich würde sie auch allgemein in der Diktion jetzt anders formulieren … Für mich ist das Freiheitliche im Sozialismus immer das bestimmende Handlungsmoment gewesen.« Heute betont Peter Brandt: »Das war nicht geheuchelt. Ich befand mich schon auf dem Weg vom revolutionären Marxismus zu einem marxistisch geschulten demokratischen Reformsozialismus, dem ich mich auch heute noch verbunden fühle.« Nach der Anhörung befand man, dass die Bedenken nicht in ausreichender Weise gegen eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst sprachen. Da der Fall »Brandt« im Fokus der Öffentlichkeit stand, hatte Peter seinen Vater schon im Vorfeld gebeten, sich nicht öffentlich zu äußern, da sonst Missverständnisse zu erwarten seien.
    Alte Bärte abschneiden. Wer das sagt, meint, dass etwas modernisiert werden soll, modernisiert werden muss. Die Redensart geht auf den russischen Zaren Peter den Großen zurück, der nach einer Europareise eigenhändig die langen Bärte der Bojaren an seinem Hofe abschneidet, weil er sie als Zeichen von Rückständigkeit begreift.
    Peter Brandt und ich hatten uns schon einige Male getroffen, als er mich nach der Schere fragte.
    »Wenn Sie nicht ohnehin schon wüssten, was für ein verrückter Kerl ich bin, dann würden Sie spätestens jetzt anfangen, mich für einen zu halten. Hätten Sie vielleicht eine Schere, mit der ich mir meinen Bart kürzen könnte?«
    Ich muss Peter Brandt in diesem Augenblick wie ein tonnenschweres Fragezeichen angeschaut haben.
    »Ich habe hoch und heilig versprechen müssen, nicht mit so einem wilden Bart nach Hause zu kommen.«
    Ich fand in diesem Augenblick nur die Bastelschere meiner Tochter, aber sie tat ihren Dienst. Einige Monate später war der Bart, den man vielleicht als trotzkistischen oder als Retro-Bart bezeichnen könnte, ganz verschwunden. Ich nahm die zahlreichen Fotografien von Peter Brandt zur Hand und

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