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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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Zeitpunkte, wo man empfangs- und sendebereit ist, nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen sind. Diese Fenster der Verständigung wollten sich für diese Zwei nicht mehr auftun. Einige Jahre nach dem Tod von Willy Brandt sitzt Rut Brandt mit Henning von Borstell, einem anderen Mitarbeiter ihres Mannes, und einigen anderen Freunden im Gasthaus »Maternus«. Es wird auch über Willy Brandt gesprochen. Warum war er, wie er war? Und was kennzeichnet einen Politiker seiner Größe? Einige Wochen nach dem Treffen schreibt Henning von Borstell am 29. November 1995 an Rut Brandt. Er sucht noch immer Antworten auf diese Fragen: »Was ist eigentlich ein Politiker mal ganz persönlich betrachtet und ohne Würdigung seines Werkes – ein richtiger natürlich, nicht der kleine ehrenamtliche? Ein Politiker ist wohl immer ein wenig besessen, süchtig und sendungsbewusst. Das treibt ihn an. Er ist notwendigerweise Generalist, hält sich also raus aus den Einzelfällen, und deshalb auch ein zwischenmenschlicher Verschleißer, er ist Spieler und Egozentriker, er ist ebenso öffentlichkeits- und medienfixiert wie im Privaten kontaktarm. Große Politiker sind Künstlernaturen, umtrieben von ihrer Sache und ihrem Spiel, das nicht nur anderen gilt, sondern Einfluss und Prägung auch als persönliche Genugtuung sucht. Politik ist – wie die Kunst – eine mächtige Droge, die freilich nur die ›Künstler‹ infiziert. Wir Schlichtbürger stehen derweil im Publikum und projizieren viele unserer Hoffnungen und Sympathien in diese Menschen. Natürlich zu Recht, dafür ist Politik-Kunst schließlich auch da. Aber wir bleiben trotzdem nur im Zuschauerraum, die Bühne gehört uns nicht.«
    Brandt hat großes Gefühl vor den Augen der Welt gewagt, aber jedes dieser Wagnisse hat ihn erschöpft, so dass ihm dort, wo ihm niemand zuschaute, die Kraft fehlte, manchmal der Mut, Gefühle zu zeigen. Die Frage aber, ob er das große Gefühl hätte zeigen können, wenn er von Kindesbeinen an ein glücklicherer Mensch gewesen wäre, bleibt gestellt. Sich für etwas zu zerreißen und dafür Anerkennung zu ernten, zog die Wunden der Zerrissenheit zusammen.

Sein langer Marsch
»Wilde Gesellen, vom Sturmwind durchweht, Fürsten in Lumpen und Loden, ziehn wir dahin, bis das Herze uns steht, ehrlos bis unter den Boden. Fiedelgewandt, in farbiger Pracht, trefft keinen Zeisig ihr bunter; ob uns auch Speier und Spötter verlacht, uns geht die Sonne nicht unter.«
Lied der bündischen Jugend, gleichermassen geliebt und gesungen von Willy und Peter Brandt
    Peter Brandt ist ein Pendler. Er lebt in Berlin und in Hagen, wo er an der dortigen Fernuniversität seit 1990 einen Lehrstuhl für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte innehat. So sitzt er viel im ICE, immer lesend, ein Buch auf den Knien, einen Stift in der Hand. Ein Laptop-Held ist er nicht, kein digitaler Flaneur, er schreibt viel mit der Hand. Wenn er mich besucht, kommt er oft mit dem Rad oder mit dem Bus, aber meistens geht er zu Fuß. Das ist sein Sport, sein Ausgleich, sein Programm gegen das Versteinern und Versteifen am Schreibtisch. Jeder Gelehrte muss aufpassen, sich nicht in ein Petrefakt zu verwandeln.
    Wenn er es einrichten kann, spaziert er jeden Tag eine bis anderthalb Stunden durch die Stadt, die Landschaft. Wie es gerade kommt. Schnelleren Schritts. Manchmal sieht es aus, als marschiere er. Etwas Kriegerisches ist mir an ihm aber bislang nicht aufgefallen. Oder ist der Furor, mit dem man ein Ziel verfolgt, kriegerisch? Ist eine asketische Lebensweise eine Form kriegerischer Selbstbehauptung? Mag sein, dass die kriegerische Phase hinter ihm liegt.
    In Berlin arbeitet er meist in der Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße. Eines Tages, wir hatten uns zum Interview verabredet, überreichte er mir eine der bekannten Plastiktüten der Bibliothek (»Staatsbibliothek zu Berlin«) – wer sie benutzt, signalisiert Bücherdurst –, die prallvoll mit Briefen, Fotos und Dokumenten gefüllt war. »Ich dachte mir, Sie können das gebrauchen. Die krassesten Liebesbriefe habe ich aussortiert, aber sonst ist nichts zensiert worden.« Peter Brandt ist kein misstrauischer Mensch. Bei unserem ersten Treffen hatte er gesagt, er sei möglicherweise kein guter Menschenkenner, aber letztlich sei er gut damit gefahren, nicht zu argwöhnisch durch’s Leben zu gehen. Ich nahm seine Gabe dankbar an. Während der Arbeit an diesem Buch habe ich mich immer wieder gefragt, wo sich denn so ein

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